Liebe adventliche Gemeinde! Vielleicht nehmen Sie in der kommenden Adventszeit immer wieder einmal die Bibel zur Hand und gehen auf Entdeckungsreise. Ich schlage vor, dass Sie einmal nachschlagen, was es in der Heiligen Schrift über das „Fenster“ als möglichen geistlichen Ort zu finden gibt, z.B. Gen 6,16 (Fenster in der Arche), Ri 6,28; Hohelied 2,9; Buch der Sprichwörter 7, 6.
Farbige Kirchenfenster sind normalerweise nicht zu öffnen; zumindest ist das nicht ihr primärer Zweck; solche ‚Fenster des Glaubens‘ lenken den Blick in eine andere Welt - ganz anders als die Fenster eines Wohnhauses. Das unterscheidet sie auch von den kühlen und fensterlosen Glasfassaden moderner Bauten.
Viele Künstler haben Fensterszenen, Alltagsmomente aufbewahrt, in denen Menschen an diesem Zwischenbereich zwischen drinnen und draußen stehen. Die Meistermann-Fenster in der Heimbacher Salvatorkirche, die den auferstandenen, erhöhten und wiederkommenden Christus wie auf einem „gläsernen Meer“ (Offb 15,2) präsentieren, sind vielleicht die bedeutendstes Fensterflächen in unserem Pfarrverband. Fensterbilder strahlen eine eigenartige Ruhe und Konzentration aus. Nüchtern gesagt, ist ein Fenster nur eine Öffnung in der Mauer, und doch eine segensreiche Erfindung, die das sonst hermetisch abgeschlossene ‚Weltenhaus‘ auftut und mir Entgrenzung schafft. Ich lade uns ein, uns bewusst dieser adventlichen Fenstersituation zu stellen, am offenen Fenster den Blickkontakt mit der Außenwelt zu suchen und dabei die eigene Innenwelt wahrzunehmen. Durch ein Fenster fällt Licht aus der weiten Landschaft in meine Innenwelt. Oft sind Fensterbilder Sehnsuchtsbilder, Fern-Seh-Bilder. In der ersten Phase der Pandemie und des Lockdowns gab es in der FAZ eine schöne Artikelserie „Mein Fenster zur Welt“, in der Literaten und Journalisten im Ausnahmezustand diesen eigentümlichen Fern-Blick des einsamen Beobachters aus dem Fenster und sich selbst dabei in dieser Welt-Distanz wahrnahmen: der alltägliche Blick nach außen und der Blick nach innen. Viele Alleinstehende finden sich am Fenster ein, schauen durch die geöffneten Flügel oder scheu durch die Gardinen nach außen in die Außenwelt. Die Sinne werden am offenen Fenster geschärft; Geräusche werden erlauscht und Vogelstimmen aufgefangen, die sonst untergehen im Zivilisationslärm.
Fenster sind adventliche Orte, Stätten des Lichteinfalls; und Fensterbilder wirken wie Türchen eines Adventskalenders. Die Maler stellen meist weibliche „Rückenfiguren“, dar, die durch nichts abgelenkt sind; Menschen, die auf ihrem Zimmer bleiben können oder müssen, geschützt, ungestört, ungesehen. Fast möchte man den Betrachterinnen zurufen: Drehe dich mal um! Doch ihr Zeitvertreib ist der Blick nach außen; das Fenster wird zur Schwelle in ein ‚Jenseits‘, das unbestimmt bleibt. Selber unbeobachtet, nehmen solche Gucker die Außenwelt wahr. Sie verharren erwartungsvoll, wunderbar passiv, manchmal fiebrig nervös und in erregter Erwartung: wann kommt der erwartetet Gast!? Für mich sind solche Fenster-Bilder ein Ausdruck der Ruhe und Sammlung; wir werden hineingezogen in eine Haltung kontemplativer Weitsicht; es sind in sich ruhende Menschen, die die Welt durch ein Fenster hindurch erblicken, unaufgeregt, ohne hektische Bewegung, ohne Lärm; Betrachter, die aufgehen in reiner Wahrnehmung, denn die Sinne sind „das Fenster der Seele“ (Heraklit).
Ruhiges Ausschauhalten statt hektische Aufbruchsstimmung
Ausschauhalten – das ist eine adventliche ‚Aktivität‘, auch keine „Aufbruchsstimmung“, die wir Prediger zuweilen den Gemeinden abverlangen. Am Fenster passiert nichts weltbewegendes. Ein solches Rückenbild ist das Gegenbild zu meiner Geschäftigkeit: diese Gestalten backen nicht, sie basteln oder telefonieren nicht; sie schmücken ihr Interieur nicht aus, lenken sich nicht ab, verausgaben sich nicht im Kirchenalltag. Völlig in sich ruhend, sind sie – wachend und wartend - auf das Wesentliche konzentriert. Das sind keine Macher und Macherinnen, ‚nur‘ Ausschau Haltende, gespannt auf etwas, was sich - womöglich - ereignet, erwartungsvoll ausgerichtet auf einen Besuch, der - vielleicht - kommt, sehnsuchtsvoll ausgespannt auf ein unerreichbares Draußen, das sie nur mit ihren Augen betasten können.
Das ist die große adventliche Frage Kommt denn jemand? Bist du auf dem Weg oder müssen wir weiter warten, auf einen ganz anderen…? Wann kommst du, wenn du kommst? Wo bleibst du nur? Hoffentlich kommst du! Wirst du je kommen? Frage ich mich ehrlich: Erwarte ich jemanden, diesen fremden Gast, um dessentwillen es die Adventszeit gibt? Fehlst du mir? Vermisse ich dich? Oder bleibe ich in meinem fensterlosen ‚Weltinnenraum‘, ohne Hoffnung auf einen offenen Himmel? Kommt Er wie ein Geliebter (im „Hohelied der Liebe“ ist ein Fenstermotiv aufbewahrt: Hohelied 2,9) - oder bleibt alles unerfüllt und gehen wir auf eine große Leere, auf einen ständig zurückweichenden Horizont zu? Und würde ich den von weitem Erspähten reinlassen oder bliebe er ‚draußen vor der Tür‘? Vertreibe ich mir die großen Fragen mit schnellen Antworten? Habe ich längst meine Erwartungen und Hoffnungen abgespeckt?
Mit Adventsaugen wie ‚Wächter auf der Zinne‘
Und darum ist dieser dichte Ort am Fenster so adventlich und verheißungsvoll, ein besonderer Schwellenort zwischen draußen und drinnen, Zeit und Ewigkeit, manchmal auch Geborgenheit und unheimlich fremder oder kalter Außenwelt. Das Fenster wartet auf Menschen mit Lust auf neue Perspektiven, auf fern-sehende Zeitgenossen, die noch neugierig sind, was von außen kommt: das Licht, das Heil. Adventsaugen! Das wäre ein gespannter Blick, erwartungsvoll, traumverloren, vielleicht skeptisch, ungeduldig, neugierig. Ja, wer kommt an, was kommt auf uns zu, wer besucht uns? Horch, wer kommt von draußen rein! Kommt mehr Licht hinein? Im Advent sind wir Fern-seher – wie die „Wächter auf der Zinne“ (GL 554,1). Adventliche Menschen sind die, deren Blick erwartungsfroh in eine andere Welt gelenkt wird, kein himmelnder Blick in ein Traumland.
Ein Gottesdienst im Advent ist wie ein Fenster zur Ewigkeit, zum Entgegenkommenden. Es ist der Ewige, der das Fenster des Himmels öffnet und hervorschaut, uns zuwinkt, uns den zusendet, den wir so sehnlichst erwarten. Das Spiel der Kinder mit dem Adventskalender passt dazu; Kalendertürchen gehen auf und darin tun wir uns auf für den „fremden Gast“, der von außen kommt und sich in meinem Innenleben einquartieren möchten. Ich warte, weil ich dem uns entgegenkommenden Gott mehr zutraue als meinem Machwerk, auch mehr als den hektischen Reform-Prozessen einer mit sich beschäftigen Kirche.
Kann ich das noch sagen: Es gibt guten Grund, wieder Advent zu feiern, ein Ausschau Haltender zu bleiben, Seinen Besuch zu erhoffen, ihm entgegenzuwarten? Lerne ich am Fenster zur Ewigkeit zu warten und Ihn in dieser schwerkranken Welt zu vermissen? Ist das zu glauben: dass Er ‚aus der Ferne‘ ausgerechnet zu mir kommt? Will ich ihn zuerst erspähen und keinesfalls verpassen? Ihn, der, wenn er kommt, mich vielleicht stört und total überrascht inmitten meiner Geschäftigkeit und Beschleunigung und Zerstreuung…? Wir können Gottes Ankunft nicht beschleunigen. Das Fest kommt doch ohnehin – auch ohne mein Warten. Für manche kommt es zu schnell, für andere viel zu langsam; ein Warten, das kribbelig macht. Ich wünsche mir, dass in meinem Warten noch Hoffnung steckt; eine Prise Sehnsucht. Ich wünsche es, dass man es mir ansieht, dass es Erlösung ist, auf die ich warte. Und wenn ich schon nicht die Fenster öffne und in meinem Mief verkomme – dann beeile dich, Heiland! Reiß die Himmel, die Türen und Fenster auf! Öffne du dich für mich! Es ist höchste Zeit, dass du kommst, damit nicht alles beim Alten bleibt, wie es ist. Höchste Zeit, dass ein Wunder geschieht und du vor der Tür stehst vor dem Wartezimmer dieser Welt. Wird er Wartende finden, wenn er kommt? „Du bist das Letzte, was ich missen möchte!“, so eine Spruchkarte. Nehmen wir uns am Fenster Zeit zu solchen oder ganz anderen Gedanken. Einen erwartungsvollen Advent wünscht
Ihr/ Euer Pfarrer Kurt Josef Wecker