Niemand kann bislang mit Sicherheit sagen, wem und wo die vielleicht wichtigste Erfindung der Welt gelang: die Erfindung des Rades. Exakt können wir jedoch sagen, wem vor 185 Jahren die Innovation der Erfindung des Adventskranzes, des Adventsrades, glückte: dem evangelischen Pfarrer Johann Heinrich Wichern (1808-1881). Er leitete eine evangelische Erziehungsanstalt, zunächst eine einfach Reetdach-Kate, das sog. „Rauhe Haus“, ein „Rettungshaus“ der „inneren Mission“, der Diakonie für verwahrloste und verwaiste Jungen aus den Hamburger Elendsvierteln, elternlose, gestrauchelte 5- bis 18jährige Straßenkinder und gefährdete Jugendliche. Diese Einrichtung existiert noch heute als Stiftung in Hamburg-Horn. Für die ihm anvertrauten Jungen ließ Wichern zum Advent 1839 einen hölzernen Lichterkranz, ein großes Wagenrad, im Betsaal aufhängen. Das Rad hing von der Decke herab. Dieser Hängeschmuck war zunächst kein begrünter Kranz, sondern ein Holzrad (1,20m Durchmesser), mit 4 dicken weißen Kerzen für die vier Adventssonntage und den im Jahre 1839 notwendigen 19 roten, kleinen Kerzen für die Werktage der Adventszeit. Je nach der Länge des Advents, konnten es 22-28 Kerzen sein. Tag für Tag wurde eine weitere Kerze in einer adventlichen Andacht entzündet und die Kinder lernten so auch zu zählen. Mit dieser Lichterinstallation schuf Pfarrer Wichern einen Trost-Weg des Lichtes, einen „Vorhof der Freude“ für die jungen Menschen ohne lichtvolle Zukunft, eine Form ‚zählbarer Frömmigkeit‘. Wichern gestaltete für die Heranwachsenden eine Art „Kinderkirche“. Erst im Jahre 1851 wurde der Versammlungsraum mit ‚immergrünen‘ Tannenzweigen ausgekleidet, und 1860 schmückten die „Rauhhäusler“ auch diesen Kronleuchter mit Tannengrün zu einem ‚Nadelkranz‘.
Der Adventskranz ist also keine Anknüpfung an das Germanentum, sondern ein rein evangelisches Symbol. Im 20. Jahrhundert wurde dieser „lutherische Kranzbrauch“ auch zunächst in katholischen Haushalten in Schlesien, dann im katholischen Rheinland und Süddeutschland, später auch in katholischen Kirchen zu einem überkonfessionellen, ökumenischen Zeichen. Früh reduzierte man auf 4 Kerzen, manchmal farblich differenziert: drei violette oder rote, eine am Gaudete-Sonntag in rosa. In Irland gab es die fünfte, die österlich-weiße Weihnachtskerze in der Kranzmitte. Der Adventskranz ist ein lebendiges Brauchtum, das die Konfessionen verbindet. Rund ist der Adventskranz als Symbol des Ewigen und des ‚Erdkreises‘ mit den vier Himmelsrichtungen (also für unseren hoffentlich auch in Zukunft ‚grünen Planeten‘), des Sonnenrades, des Siegeskranzes, von dem Paulus spricht (Phil 3,8-14; 2 Tim 2,5). Vielleicht geht uns im Blick auf diesen Lichterkranz auf, wie dringend wir des göttlichen „Rettungskranzes“ bedürfen, den Gott den vielen ‚Schiffbrüchigen‘ und Verlorenen in Christus zuwirft und der uns zum Lebens- und Friedenskranz werde.
Ich finde es sehr innovativ, dass engagierte Gemeindemitglieder uns mit der diesjährigen Gestaltung des Adventskranzes an den Wichernschen „Originalkranz“ und die Anfänge dieses religiösen Symbols und Wegweisers hin zur Weihnacht erinnern. Wir erleben das ‚Wachsen des Lichtes‘ und halten im Zentrum dieses Kranzes den Raum frei für das Gottesgeschenk, das wir „Kinder des Lichtes“ in Christus, in ‚Gottes letztem Wort‘, empfangen. Wir wollen dem „Licht der Welt“ entgegenwarten und brauchen das Grün der Hoffnung, solche Lichtzeichen der Sehnsucht und des wachsenden Lichtes. Der Adventskranz ist mehr als eine stimmungsvolle Zimmerdekoration, mehr als ein sentimentales Brauchtum. Nehmen wir auch die Werktage des Advents ernst und bereiten wir Ihm wachend und betend Schritt für Schritt die Wege! Der Kranz mit seinen diesmal vielen Kerzen ist eine wortlose Adventspredigt, ein Blickfang und ein Zeitzeichen eigener Art, eine Lichtstraße zur Weihnacht, ein Lichterkranz, den wir nicht zu früh an Weihnachten wegräumen sollten.
Kurt Josef Wecker