Das Votum auf die Frage: Sind Sie für oder gegen die Sommerzeit, die Reaktion auf die zweimalige Zeitumstellung im Jahr, spaltet die Gesellschaft. Meine Option, sollte das Ritual der Zeitumstellung einmal abgeschafft werden: die Beibehaltung der Sommerzeit auch im Winterhalbjahr. Aber das ist nur mein unmaßgebliches Votum. Vielleicht können nicht alle von Ihnen meine alljährliche Liebeserklärung an diese Jahreszeit nachvollziehen - und mein Eingeständnis, dass ich mir das ewige Leben wie einen nie aufhörenden Sommer vorstelle. Ja, ich weiß, es gibt vermutlich mehr Frühlingsmenschen als Sommer-Fans. Ja, ich weiß auch: Gott hat Sommer und Winter gemacht (Gen 8,22 und Ps 74,17, Ps 104), und dazu noch zwei weitere Jahreszeiten. Alles hat seine Zeit (Koh 3,11f.17) und der Schöpfer liebt die bunte Gnade, die Abwechslung und die Vielfalt. Doch ich muss nicht alle Schöpfungsgaben und Zeiträume Gottes gleich liebhaben und halte früh Ausschau nach Vorboten des Sommers (vgl. Mt 24,32). Ein Supersommer würde mir nie auf die Nerven gehen. Ich werde besonders im Sommer Schöpfungstheologe und besinge die Schönheit dieser Zeit. Soviel Blühen und Reifen war nie! Leben ist schön – dieser Satz geht mir besonders in dieser Zeit oft durchs Gemüt und über die Lippen.
Was predigt mir der Sommer? Vielleicht ist das übertrieben, und diese Jahreszeit wird von mir überschätzt … Schön und irgendwie leichter als sonst; vielleicht auch, weil der Sommer die bevorzugte Urlaubszeit ist. „Geh aus, mein Herz und suche Freud, in dieser lieben Sommerzeit“ (Evangelisches Gesangbuch 503 und in manchen Diözesananhängen im Gotteslob). Ich Stubenhocker bin dann gerne draußen, mit zunehmendem Alter eher im Schatten als in der prallen Sonne, am Strand oder auf einer schattigen Parkbank, auf den Boden gestreckt in einem verwunschenen oder paradiesischen Garten, auf Balkonien oder im Außenbereich der Gartenlokale. Ja, im Sommer werde ich außenorientiert und zugleich langsamer. Ist es das politische Sommerloch, das uns eine Weile von den schweren Themen des Tages ablenkt, die eisig kalten Weltprobleme, die ja leider durch keine Sommersonne weggeschmolzen werden? Nicht für alle ist der Sommer ein Vergnügen. „Ich hasse den Sommer, der mich vernichtet“, dichtet der Rimbaud. Und Gottfried Benn dichtet 1936 „Einsamer nie als im August.“. Bei diesem Dichter kommt der Sommer auch darum schlecht weg, weil Benn ihn mit einer „Erfüllungsstunde“ vergleicht, mit einer erhofften Zeit, die nun einfach ‚da‘ ist. Wenn sich etwas am Gipfel oder Ziel erfüllt, kann man schwermütig werden, weil der Höhepunkt nun erreicht ist und im Sommer das Tageslicht wieder nachlässt … Fans anderer Jahreszeiten singen eher ein Loblied auf den sehnlichst herbeigewünschten Frühling oder werden nachdenklich wegen des Herbstes mitsamt den dramatischen Veränderungen in der Natur, die er mit sich bringt; oder sie gewinnen dem grimmigen Winter - den ich fürchte - zu freundliche Züge ab.
Mit Sommer assoziieren einige allererst Wespen, Sonnenbrand und Schwitzen, Extremwetter, Dürre und Waldbrände, verregnete langweilige Ferientage, Hitzeperioden und ersehnte Abkühlung, schlechten Schlaf wegen der warmen Nächte und wenn die Luft ‚steht‘. Oder die abgeernteten staubigen Felder erinnern viel zu früh an den Herbst und stimmen melancholisch.
Auch die Bibel weiß um die Gefahren und Mühen des Sommers, die unerbittliche Hitze und das Lechzen nach Kühlung (Jes 25,4 und Sir 34,19); sie empfiehlt Augenschutz vor der gleißenden Sonne (Sir 38,29 und 43,3) und preist den wohltuend kühlenden Morgentau im Hochsommer (Sir 18,16), sie gibt der Sehnsucht nach Schatten Ausdruck (Jes 49,10) und stöhnt: Wer hält es aus in dieser Bullenhitze! (vgl. Sir 43,2f). Die Heilige Schrift weiß um die tödliche Kraft der Hitze (Offb 16,9; Sir 14,27) und den Durst an einem Sommermittag, den Jesus spürt (Joh 8,12). Doch der Bibel war die Sehnsucht nach einem kühlenden Bad im Meer, nach einem Sonnenbad am Strand und dem Besteigen sonnenumglänzter Gipfel fremd. Für mich ist die dritte Jahreszeit eine wunderbare Gabe des Schöpfers; und ich kann Gottfried Keller verstehen, der dichtet: „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, von dem goldenen Überfluss der Welt.“. Es ist buchstäblich Zeit, sich zu betrinken am Überfluss der Farben und Gerüche, am Glanz des Sonnenlichtes, an der Farbe der Erdbeeren und Kirschen, der Bläue des Himmels und des Meeres, an den Möglichkeiten der zur Verfügung stehen-den freien Zeit. Jetzt wo das Jahr wie im Gleichgewicht ist -“die große Waage ruht“ (GL 465,1), die Zeit stillsteht und Sommernachtsträume wahr werden, da wird der Hunger nach Wärme und Licht gestillt, der uns allen im Blut liegt. Könnten wir doch - anders als Rilke - in der Gegenwartsform sagen: Herr, dieser Sommer ist groß!
Der zum Protestantismus konvertierte Jude Heinrich Heine wagt einen augenzwinkernden Konfessionsvergleich und sagte es unnachahmlich (im 3. Teil seiner ‚Reise von München nach Genua‘), im Blick auf einen sommerlichen Dombesuch in Trient: „Man mag sagen, was man will, der Katholizismus ist eine gute Sommerreligion. Es lässt sich gut liegen auf den Bänken dieser alten Dome, man träumt dort die kühle Andacht, ein heiliges Dolce far niente, man betet und träumt und sündigt in Gedanken, die Madonnen nicken so verzeihend in ihren Nischen, weiblich gesinnt verzeihen sie sogar, wenn man ihre eigenen holden Züge in den sündigen Gedanken verflochten hat, und zum Überfluss steht noch in jeder Ecke ein brauner Notstuhl des Gewissens, wo man sich seiner Sünden entledigen kann.“
Würde man die Kirche mit einer Jahreszeit vergleichen, dann wohl am ehesten mit dem Winter (sprichwörtlich ist Karl Rahners Dictum von der „winterlichen Kirche“) oder dem Spätherbst. Mit dem Frühling oder Sommer vergleichen wir unsere gegenwärtige Kirchenphase weniger. Wir stellen uns Jesus vor, wie er im „galiläischen Frühling“ auf einer Erfolgswoge schwimmt und wunderwirkend durch seine Heimat zieht. Wir denken an seine Sommer-Gleichnisse von Saat und Ernte (vgl. Mt 6,25-34).
In Gottesdiensten im Sommer feiere ich ein Dankeschön für geschenkte Zeit. Ich weiß nicht, in welchem Lebensalter ich (schon oder noch nicht) bin. Ist es noch Sommer? Vielstimmig predigt der Sommer zu mir. Ich entdecke im Sommer eine Facette meines Gottesbildes, die ich in den ‚Übergangsjahreszeiten‘ und im Winter vergesse: Gott geizt nicht. Er mutet uns Vieles zu, die Hitze des Alltags, Dürrezeiten, „Durst und Staub der langen Reise“, das Geblendet-Werden von seiner brennenden Nähe und auch das Suchen und Fragen nach Ihm angesichts seiner tiefen Verborgenheit. Er gönnt uns Großes: Licht, Leben, Früchte, Reife, Wärme. Verschwendung; Geiz und Ausschweifung haben nicht immer den Geruch der (Tod)Sünde. Und vielleicht bin ich deshalb – trotz vieler Sympathien für die protestantische Frömmigkeit und Musik – so gerne ein katholischer Christ, weil uns Katholiken der quasi barocke Überschwang eher im Blut liegt, ein Glücksgefühl, eine sinnliche, überbordende Lebensfreude, die Lust am Genuss, überwältigt vom Füllhorn und der Großzügigkeit des Schöpfers. Und so singe ich mit Ihnen, wie ein Kind: „Gottes Liebe ist wie die Sonne, sie ist immer und überall da…“
Ihnen und Euch einen großen, erholsamen Sommer!
Kurt Josef Wecker