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Ich wohne neben einem Friedhof; seltsamerweise war das auch so in meiner Kaplanszeit in Gillrath; und fast 14 Jahre lang in Bonn lebte ich neben dem „Alten Friedhof“. Das schmiedeeiserne Eingangstor, das ich hier nebenan auf dem alten Friedhof am Gotteshaus auf dem Burgberg in Nideggen scheppern höre, wenn es geöffnet und geschlossen wird, markiert eine Schwelle zu einer ‚anderen Welt‘. Friedhöfe sind Nekropolen, Erinnerungsorte derer, die verschwunden sind. Zeitgenossen, uns so nahe Menschen, die wir – an Gott verloren haben. Verschwundene Gesichter. Manche Friedhofstore werden bei Einbruch der Dunkelheit verschlossen. Dann sind die Toten mit sich allein. Der November führt uns auf diese ‚Gottesäcker‘. Wir sehen frisch gepflanzte Stiefmütterchen, durchschreiten die alten Alleen auf gewachsenen Friedhöfen, rechen welkes Laub zusammen, erfahren im Dunkel das flackernde Lichtermeer als Trost. Lichter und Blumen machen den Ort des Todes schön. Noch prägt der Friedhof das Bild unserer Dörfer und Kleinstädte. In Großstädten ist er oft die einzige Grünanlage, eine stille Oase in einem Meer von Häusern: Der Friedhof - ein markanter Erinnerungsort an die eigene Endlichkeit inmitten der Alltäglichkeit. Noch ist der Tod nicht vollständig ausgewandert in die Idylle der Friedwälder, in denen die menschliche Vergänglichkeit mit dem Kreislauf der Natur verschmolzen wird. Friedwälder sind oft weit genug weg sind, um die Geschäftigkeit des Hier und Jetzt zu ‚stören‘. Doch noch hat die Stätte der Toten ihren Platz neben der Stadt der Lebenden, allerdings klar abgegrenzt mit Mauer, Zaun und Tor. Die Lücken unbesetzter Grabfelder werden immer größer.
Friedhöfe versinnbildlichen eine gute Nachbarschaft von Lebenden und Toten. Die Toten sind nicht aus dem Auge, aus dem Sinn … Die Friedhofskultur kann ein uns bereichernder und berührender Teil des Lebens sein, aber sie darf das fortschreitende Leben nicht bestimmen und beherrschen. Wir besuchen die Friedhöfe, wir kommen, verweilen dort eine gewisse Zeit lang und gehen wieder und überlassen die Toten unserem Gott. Totenandenken darf kein Ahnenkult werden.
Einige Male im Jahr weitet sich der kleine Grenzverkehr privater Besuche am Grab zum kollektiven Ereignis; in manchen Orten zur Kirmes und natürlich bei Beisetzungen. Und dann durchkreuzt und bremst der ‚Totenmonat‘ November den Gang des Jahres. Nun spüren wir die Kürze der Tage, die Zumutung der eigenen Sterblichkeit. Wir ‚pendeln‘ hinüber auf die Friedhöfe und stoßen auf unsere eigene Sterblichkeit. Der Friedhof inspiriert uns.So vieles wurde uns damals in der Schule beigebracht. Womöglich habe ich in einem Fach geschwänzt: Die Stunde der Lebenskunde, die den Tod nicht verdrängt. Bedenke, dass du sterblich bist! Sobald ich, sobald wir an das Ende des eigenen Lebens denken, geraten wir womöglich in Panik, oder wir üben uns in der Kunst der Verdrängung. Gibt es eine Lebenskunst des Sterbens? Wer von uns Sterbende begleitet, nimmt eine anstrengende Lehrstunde der eigenen Sterblichkeit auf sich. Wie sehr lasse ich den eigenen Tod an mich heran, der ich so oft darüber predige, der ich in meinen über 35 Priesterjahren hinter Särgen und Urnen herging und ‚unglaubliche‘ Trostworte zu sprechen wage: dass Gott das Leben will und uns nicht zum Sterben gemacht hat, dass Gottes Pläne mit uns weit über das Grab hinaus reichen, dass wir alle Zukunft haben bei ihm. Ja, davon singen wir, predigen wir, das erbitten wir: die Hoffnung auf das Auferstehen. Doch für den Sterbeunterricht bin ich wohl immer noch zu unreif, dieser letzte Unterricht, den uns die Schwerkranken an den Sterbebetten lehren. Es ist oft das Letzte, was uns unsere Lieben lehren, die uns vorangegangen sind - manche sanft entschlafen, andere aus dem Leben gerissen, manche nach hartem Todeskampf.
Wenn das Leben rund läuft, dann sage ich mir: Das Leben ist zu schön, um an den Tod zu denken, an die Zeit, die dann ohne dich und mich weitergeht. Der Philosoph Hans Blumenberg erinnert mich an diese Diskrepanz zwischen Weltzeit und Lebenszeit. Ich mit meiner Lebenszeit nehme nur einen Bruchteil lang teil an der Weltzeit vor mir und nach mir. Das kränkt. Kann das möglich sein: Ein Leben, an dem ich nicht mehr teilhabe? Der andächtige Friedhofsgang erinnert mich an die verdrängte nackte Wahrheit: Nein, ich bin nicht unsterblich. Das tägliche Aufstehen, der Wechsel der Jahreszeiten, die Vorfreude auf den nächsten Sommer, Urlaubsplanungen …; all das ist nicht selbstverständlich.
Im November endet das alte Kirchenjahr; Zeit, um vor Gott Bilanz zu ziehen: Was bleibt in Erinnerung? Was hat Bestand in aller Vergänglichkeit? Unsere Friedhofsblicke sind im November eher rückwärtsgewandt. Wir erleben uns alle als Hinterbliebene. Ein Dichter hatte dafür ein schönes Bild: Wir erleben uns wie in der Eisenbahn, wenn man entgegen der Fahrtrichtung sitzt und zurückschaut, auf das, was längst vorbei ist, Zeiten und Begegnungen, wie vorbeifliegende Landschaften. Das Ziel liegt im Rücken, uns verborgen, doch auf uns zukommend. Und wir nähern uns diesem Ziel an, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Wir leben und bewegen uns von Gott zu Gott! Darum sind wir nicht friedhofsfixiert. Unsere Blicke und Fragen gehen weit über diesen Ort hinaus.
„Herr Pastor, werde ich nach dem Tod meine Lieben wiedersehen?“ Kannst Du, Gott, der du der Schöpfer „aller Seelen“, vielleicht von hundert Milliarden Seelen bist, die Seelen meiner Lieben im Blick behalten? Und kannst du einmal meinen Seelenfunken am Glühen halten? Gestehen wir uns diese Hoffnungsbitte ein, nicht nur an den Gedenktagen im November: Gott, lass nicht alles vergehen! Schenke ein Wiedersehen! Ich versuche, mit einem Satz des evangelischen Theologen Karl Barth zu antworten: „Ja, ich glaube, dass wir unsere Lieben nach dem Tod wiedersehen – aber die anderen auch!“ Die anderen - alle Seelen! Wir dürfen unvorstellbar groß von Gottes Gedächtnis und seinen unbegrenzten Möglichkeiten denken. Für mich ist die Hoffnung auf die Auferstehung das Gegenstück des Vertrauens auf Gott den Schöpfer: Er hat alles aus dem Nichts geschaffen, er kann das Werk seiner Hände nicht einfach zu Bruch gehen lassen; und er kann auch uns neu gestalten in seiner Schöpferkraft. Ich kann es Ihnen nicht sagen, wie wir uns dann hoffentlich im Himmel wiedererkennen werden.
Wahrscheinlich erkennen wir uns nicht an einer Nelke im Knopfloch. Vielleicht wird diese Frage auch keine Bedeutung mehr haben, denn wir werden „gleichgestaltet“ sein der Gestalt Christi und gemeinsam Anteil haben an seiner Herrlichkeit. Wir werden verwandelt in die Herrlichkeit der Gestalt Christi. Diese Herrlichkeit ist nicht losgelöst von Jesu Person zu verstehen. Unsre Zukunft hängt am seidenen Faden der Wahrheit Seiner Auferstehung! Das Osterlicht ist der „Glanz“ der Gegenwart Gottes, der über dem Leben Jesu liegt und von ihm ausstrahlt. Seine Heiligkeit, in die wir eintauchen, längst eingetaucht sind in der Taufe, als wir nicht in irgendeine kirchliche Institution, sondern in IHN hinabgetaucht wurden, in Seinen Tod und in Sein Auferstehungsleben. Im Vertrauen auf Jesus Christus verliert die Grenze zwischen Toten und Lebenden ihre irdische Bedeutung. „In ihm“ leben sie alle, Lebende und Tote (Lukas 20,38). Und im Glauben sind die Toten bei Gott lebendiger als wir zufällig hier und jetzt Lebenden. Sie leben beim heiligen Gott. Wir wünschen unseren Verstorbenen Gottes übersprudelnde Heiligkeit.
Wenn wir den Friedhof verlassen, bleibt der Eindruck der Kreuze auf vielen Grabsteinen. Das Kreuz ist eingraviert vor dem Todesjahr; das Erkennungszeichen einer Gemeinschaft, die viele Namen verbindet – das Heilszeichen, welches das Todesdatum – einmal auch mein Todesdatum - mit einem großen Pluszeichen versieht.
Ein trostreiches Fest Allerheiligen / Allerseelen und einen nachdenklichen November wünscht
Euch und Ihnen
Ihr
Kurt Josef Wecker, Pfr.