Osterbildbetrachtung

Was habe ich im Grab verloren und was habe ich im Grab zu suchen?

Tomb_of_Jesus_from_above,_Church_of_Holy_Sepulchre (c) rechtefrei
Tomb_of_Jesus_from_above,_Church_of_Holy_Sepulchre
Datum:
So. 2. Apr. 2023
Von:
Kurt Josef Wecker, Pfarrer
Ostergedanken nach dem Besuch der Jerusalemer Grabeskirche von Kurt Josef Wecker
Wer geht schon freiwillig ins Grab? Ins Grab Jesu gehen Pilgernde freiwillig und gelangen auch wieder ins Freie. Ich nehme Sie mit an einen seltsam - faszinierenden Ort, die Grabeskirche in Jerusalem mit der Rotunde, die die Ädikula, die das Heilige Grab umgibt. Als Heiliglandpilger setze ich mich erneut der Anziehungskraft dieses Grab aus. Ja, zum wiederholten Mal habe ich mich eingereiht in die Warteschlange ins Grab. Ich will da rein! Tage zuvor kroch ich hinein ins Mariengrab im Kidrontal nahe des Gartens Gethsemane. Und jetzt der Höhepunkt. So oft ich schon hier war - scheu betrete ich erneut die Kapelle mit den Resten des Felskammergrabes in der Grabeskirche von Jerusalem, wenige Meter von der Kreuzigungsstätte Golgotha entfernt. Das Bild lenkt unseren Blick vom Heiligen Grab hinauf in die kürzlich restaurierte Kuppel des Zentralbaus in Jerusalems Altstadt, der seit Kaiser Konstantins Zeiten den Ort markiert, an dem Jesus am 7. April des Jahres 30 in einer Felsengrabkammer in einem aufgegebenen Steinbruch - damals noch vor den Toren der Stadt - beigesetzt wurde. Konstantin, auch durch seine Mutter Helena unterstützt, ließ ab 326 das Heilige Grab aus dem Felsen herauspräparieren, den Felsen drumherum abtragen. Er schuf einen Kuppelbau darüber und vollzog so die Inbesitznahme und Sicherstellung eines Grabes! Diese Stätte umkreisen wir Christen - wie die Muslime die Kaaba in Mekka. Wir blicken durch geheimnisvolle Löcher ins Innere der Grabkapelle, durch die hindurch der griechisch-orthodoxe Patriarch am Karsamstag das Osterlicht hindurchreichen wird an die Schar der Gläubigen, nachdem das unerklärliche Feuerwunder in der Kapelle geschah. Dann verteilt sich das Licht aus dem Grab buchstäblich wie ein ‚Lauffeuer‘ unter den Gläubigen. Wer in die „Grabeskirche“ tritt, die die Orthodoxen „Anastasis“, „Auferstehungskirche“ nennen, scheut keine Wartezeiten, um Augenblicke in einem Leerraum zu sein, in dem ER nicht mehr ist. Wer es an diesem Ort aushält, der wirkt danach ‚mitgenommen‘.
Wer die Grabeskirche als Höhepunkt einer Heiliglandfahrt besucht, verspricht sich große religiöse Emotionen, feuchte Augen, klopfende Herzen, Schaudern angesichts der Ewigkeit! Doch – dieses Gotteshaus ist kein Himmel auf Erden und bereitet keinen spirituellen Event. Alles ist irritierend in der „Mutterkirche der Christenheit“, wenig erhaben, etwas chaotisch und diffus; fromme Geschäftigkeit. Uns fehlt der Überblick; dieser Bau aus der Kreuzfahrerzeit ist ein Konglomerat von Kapellen, Treppen, Gruften, momentan eine Dauerbaustelle, ein Gleichnis der Kirche und Kirchen in ihrem chaotischen, zerstrittenen und manchmal unansehnlichen Zustand. Nur frühmorgens und am späteren Abend ebbt die Massenflut derer ab, die ‚es‘ gesehen haben wollen. Am frühen Morgen gehört der Bau den Beter/innen und den hier ansässigen Glaubensgemeinschaften. Tagsüber wird manche fromme Erwartung enttäuscht: keine andächtige Stille, keine barocke Pracht, keine ordentlichen Abläufe; man erlebt eher einen Konfliktraum. „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen“, so lautet ein empfehlenswerter Dokumentarfilm über die Zustände und Abläufe in der Auferstehungskirche. Die sechs unter sich zerstrittenen Konfessionen unter dem Dach der Grabeskirche beten nebeneinanderher, ohne sich eines Blickkontakts zu würdigen. Es kommt immer wieder zu kleinen Rangeleien. Eifersüchtig verteidigen sie ihre Orte und Zeiten. Dieser Bau ist das ungeschönte Abbild eines oft desolaten Kirchenzustands, kein himmlischer Thronsaal, keine schöne Gegenwelt. Darum ist die fast unansehnliche Ästhetik der Grabeskirche Jesu in Jerusalems Altstadt ehrlicher als die makellose Pracht des römischen Petersdomes, die Grabeskirche des Petrus. Das Outfit der Grabeskirche versinnbildlicht eine Kirchenkrise, die alle noch so gut gemeinten Reformversuche und aller synodale Aktivismus nicht beseitigen können. Was, wenn die Kirchen die „Grabmäler Gottes“ (Friedrich Nietzsche) wären? Selbst am heiligsten Ort der Christenheit, in der Grabeskirche, stoßen wir auf unzählige Bruchstellen, auf Pathologien der Frömmigkeit und einer armseligen Kirche! Sei’s drum!
 
Ich muss da unbedingt rein ins Grab! Welche religiöse Erfahrung erhoffe ich hier? Wird es ‚Klick‘ machen? In der Warteschlange habe ich Zeit, mir Rechenschaft zu geben über das, was mich darin erwartet. Lange, viel zu lange halte ich mich womöglich vor dem leeren Grab auf. Seltsam ist das Heilige Grab, weil ich darin trotz mancher religiöser Accessoires Leere erlebe. Der Leichnam, der darin lag, fehlt. Christus, du fehlst an diesem Ort! Ich greife ins Leere wie die Frauen am Ostermorgen. Sehnsucht nach Leere? Es ist die fromme Pilgersehnsucht, die mich packt und anzieht. Sehnsucht ist die Sucht nach dem, der fehlt. Ich vermisse Jesus. Wohin ist der Körper Jesu verschwunden? Scheu und ergriffen werde ich eintreten, die Marmorplatte berühren und küssen. Die marmorne Altarplatte bedeckt den Felsenrest, der übrigblieb, nachdem ein muslimischer Kalif im Jahre 1008 große Teile der felsigen Grabhöhle wegzuschlagen befahl. Das Grab Jesu ist ein merkwürdiger Hoffnungsort, löst gemischte Gefühle aus. Ich werde Steine betasten, Felsen küssen, Stoßgebete murmeln. Suche ich wirklich hier Jesus, den Gekreuzigt-Auferstandenen? Oder genieße ich die stolze Bestätigung und Befriedigung: Ich bin auch hier gewesen, ich habe es geschafft …? Ich habe mich zum wiederholten Male davon überzeugt: Das Heilige Grab ist kein „Beinhaus“. „Hic non est“ (Markus 16,6). Er ist nicht hier! Was tun wir also hier? Wir könnten enttäuscht sein, weil wir nichts finden und nur Steine betasten – wie die Juden den Stein der Westmauer (Klagemauer), wie die Muslime unter dem Felsendom den Abrahamsfelsen Morija streicheln. Nur Steine, nur Ritzen, nur Leere! Ist der Besuch im Heiligen Grab ein Stelldichein mit der Stätte des Nullpunkts? Im Grab rieche ich kein Osterparfüm, sondern stickige Luft, Schweiß, abgestandenen Atem, kalten Weihrauchduft. Der Stein vor dem Grab ist zwar weg, aber kein Pilger, keine Touristin kann ungehindert eintreten. Der Weg ins Grab Jesu ist eine Einbahnstraße (anders als beim Mariengrab). Man muss kehrt machen; der Eingang ist der Ausgang; auch darum stauen sich die Grabbesucher vor diesem höhlenartigen Raum. Da, wo der Rollstein lag und wo die römischen Besatzer ihre Wächter postiert hatten, stehen nun zuweilen ruppige griechisch-orthodoxe Wächter, die den ‚Personenverkehr‘ am Eingang regulieren und bestimmen, wer sich wie lange in den beiden winzigen Kammern aufhalten darf: in der eigentlichen Grabkammer und in dem Vorbau, in dem der Osterengel das unfassbare Geschehen gedeutet hat.
Ab ins Grab! Alles andere ist unwichtig, belehrt uns der Gide und ich gebe ihm Recht; es zählt diese Grabesvisite, das Betreten eines Leerraums, die kurze private Frömmigkeit, das erregende Gefühl, dass man leibhaftig am Ort der „Zeitenwende“ ist. Ein Grab als Sehnsuchtsziel. Heiliglandpilger wollen wenigstens einmal im Leben dorthin: ins Grab und zuvor hinaufklettern auf den Golgothafelsen. Der Gide verspricht: Da bringe ich euch hin! Dafür müsst ihr Zeit mitbringen! Und so kämpfen wir uns friedlich und doch energisch den Weg dorthin frei und ahnen, wie im Mittelalter die Kreuzritter den Zugang zum Heiligen Grab mit allen Mitteln freikämpfen wollten. Der Kurzbesuch in der zweiteiligen Grabkammer kann enttäuschen und verwirren, er kann aber der Höhepunkt nicht nur einer Heiligland-Pilgerfahrt, sondern eines ganzen Glaubenslebens werden. Ich war schon weit mehr als dreißigmal dort. Die Spannung wächst jedes Mal: Gleich bin ich da, wo ER lag und ‚es‘ passiert ist … Und doch: Ich bin zu spät, wie damals die Frauen mit ihren Salbgefäßen. Hier hat sich Gott längst zu schaffen gemacht, ohne dass es dafür Zeugen gab; in aller Herrgottsfrühe. Gott war’s, der hier die Friedhofsruhe gestört hat. Ich betrete das Geheimnis der heiligen drei Tage. Ob‘s wahr ist? Nur, wenn Ostern, die Auferweckung des gekreuzigten Jesus, wahr ist, dann hat unser Leben Zukunft. Ich möchte tiefer glauben an das Wunder, welches Grab und Tod übersteigt. Wenn ich in das Heilige Grab eintrete, werde ich mit meiner eigenen Endlichkeit konfrontiert und blicke im Glauben weit über diesen Nullpunkt menschlichen Lebens hinaus. Christi Auferstehung erlebe ich hier nicht. Sein Körper ist weg. Das muss man aushalten. Wir haben keine Verabredung mit Ihm. Wenn Christus mir nahe kommt an heiligsten Stätten, wenn ich ihm plötzlich und unerwartet in die Arme laufe, dann wäre dies ein Geheimnis des Glaubens und der souveränen Freiheit Jesu Christi. Trotzdem will ich da rein! Wir stellen uns an, schubsen, reagieren verbissen auf Vordrängler mit unwirschen Bemerkungen, als ob es im Inneren dieses seltsamen Gebäudes etwas umsonst gäbe. Ja, wer weiß -vielleicht gibt es etwas umsonst …?! Eine unerhörte Verheißung! In der Warteschlange hat man Zeit, sich zu fragen: Was habe ich hier verloren? Will auch ich dem Engel der Osterfrühe begegnen? Und werde ich enttäuscht sein, wenn mir dieser Engel nicht begegnet, dieser Freudenbote, der den tapferen Frauen am Ostermorgen Beine machte und sie wegschickte von dieser Felsengruft? Deren Gefühle sind überliefert: Furcht und Schweigen, Entsetzen und fassungsloses Erstaunen. Mit welchen Gefühlen werde ich aus dem Grab wieder auftauchen: mit Bewunderung, Entsetzen, Staunen, mit Befriedigung und dem stolzen Gefühl, es hineingeschafft zu haben? Ja, was habe ich hier verloren? Mich überkommt ein wenig das schlechte Gewissen. Ich komme mir vor wie einer, der dem Engel des Ostermorgens nicht glauben will. Er hat die Frauen belehrt: Stopp! Bis hierhin und nicht weiter! Macht kehrt und sucht ihn anderswo! Kehrt um, lasst das Grab hinter euch! Geht nach Galiläa, dorthin, wo alles gut anfing! Frei läuft er draußen herum. Er ist so frei, euren Weg zu kreuzen, wo ihr es nicht vermutet. Dort ist er, der Lebendige! Geht in euren Alltag, wo ihr dem lebendigen Christus nicht entkommen könnt. Dort umgibt euch seine Geistesgegenwart von allen Seiten, bereitet er euch Fortsetzungsgeschichten von Ostern. Das Grab ist leer, der gekreuzigte Held erwacht! Er ist ganz woanders. Du, Herr, bist nicht zu fassen, nicht von Gräbern aus Stein und nicht von frommen Besitzansprüchen der Kirchen. Er ist uns voraus, läuft frei in unserem Galiläa herum. Er hat einen Vorsprung. Wir sind ihm nicht gewachsen. Ostern ist größer als die sterbliche Kirche, größer als mein skelettierter Glaube, größer als meine allzu bescheidene Hoffnung. Die Kirchen können ihn nicht an heiligen Orten konservieren und in Besitz nehmen. Der Lebendige kommt ungefragt und gibt Antworten auf die Fragen, die wir kaum noch zu stellen wagen: Was wird mit mir, wenn ich im Grab liege? Wer wird für die stummen Toten sprechen?
Na, wie war’s im Grab? Ja, ich bin darin gewesen, als Pilger, nicht als ‚Ritter vom Heiligen Grab‘. Danach ging es zurück ins Hotel, danach nach Galiläa, dann zum Flughafen, dann nach Hause in die vertraute Umgebung der eigenen vier Wände. Hat sich etwas geändert, weil ich 45 Sekunden im Heiligen Grab war, am Nabel der Welt? Habe ich dem Tod ins Auge geschaut und die Hoffnung neu belebt, dass das Wunder des Ostermorgens auch auf dich und mich überspringt? Oder geht alles so weiter wie zuvor? Würde sich an meinem Leben und dem ganzen Kirchenbetrieb etwas ändern, wenn das Grab nicht leer gewesen wäre, wenn Jesus tot wäre?  Es wäre schön, wenn uns Pilger nicht bloß die Neugier, sondern die Sehnsucht nach unserer eigenen Auferstehung ins Grab Jesu triebe, wenn wir im Heiligen Grab nicht nur unserem eigenen Grab ins Auge schauen, sondern neu zu hoffen wagen, dass der Lebendige mich mitnimmt in das „himmlische Jerusalem“.
Wir Sterbliche kommen nicht weiter als bis zum Grab. Doch mein Leben ist keine Reise zum eigenen Grab – mein Pilgerweg geht weit darüber hinaus in den Ostergarten, der sich auch uns öffnen wird. Dieses leise Versprechen Gottes höre ich im Grab Jesu. Das leere Grab von Jerusalem, vielleicht der heiligste Ort der Christenheit, ist keine Monstranz; denn der Leib Christi fehlt, will anderswo entdeckt werden. „Entdecke mich!“ – dazu lädt die Heiligtumsfahrt in Aachen ein. Das Grab ist ‚nur‘ ein Weg-Weiser, eine Folgeerscheinung des österlichen Handelns Gottes am Gekreuzigten, ein Drehpunkt. Dieser denkwürdige Ort reicht nicht für unseren Osterglauben. Die leere Erinnerungsstätte fasziniert, aber tröstet nicht. So prickelnd der Augenblick im leeren Grab auch ist: das ist kein Ort zum Verweilen. Der Osterengel untersagt die lange Verweildauer in diesem Un-Ort (Marc Augé). Das Grab Jesu ist, wie seine Geburtshöhle, ein bloßer ‚Transitort‘ Christi. Haltet euch nicht zu lange an solchen heiligen Orten auf, so auratisch und suggestiv sie auch sind. Los, wagt den Ortswechsel, sucht den Auferweckten anderswo! Sucht ihn dort, wo ihr es kaum für möglich haltet. Er ist uns näher als wir denken. Überall kann er uns mit seiner Präsenz überraschen. „Niemals können wir sagen:/ dort nicht“ (Gottfried Bachl).
Ihnen und Euch ein frohes und ermutigendes Osterfest
Kurt Josef Wecker. Pfarrer