Reflexionen am Weihetag: Seit 35 Jahren Priester sein

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Datum:
Sa. 25. Feb. 2023
Von:
Kurt Josef Wecker
Liebe Mitchristinnen und Mitchristen in der GdG Heimbach/ Nideggen,
wie man etwas altmodisch sagt: ich gehöre nun 35 Jahre „zum geistlichen Stande“. Normalerweise predige ich selten übers Priestertum oder thematisiere auch ‚die Kirche‘ kaum. In diesen Tagen um meinen Weihetag herum denke ich zurück an diese Stunde, als ich mit einigen Mitbrüdern am 20. Februar 1988 mit klopfendem Herzen auf dem Teppich, vor dem Altar in der Bischofskirche lag und den heiligen Vorgang der Priesterweihe über mich ergehen und in mich einsickern ließ. Was habe ich damals von der Handauflegung durch Bischof Klaus Hemmerle erwartet? Wurde ich da irgendwie neu gemacht? Vielleicht hatte ich in diesem Augenblick nichts Großes im Kopf, erwartete keine Einflößung von Geisteskraft und übernatürlichen Begabungen, von ungeahnten Einfällen und übernatürlichen Möglichkeiten. Damals bei dieser Hoch-Zeit und noch bei der anschließenden Primiz hat mich noch ein spürbar volkskirchlicher Rückenwind hoch leben lassen. Hatte ich mir eingebildet, mir werden kraft dieses Weiheaktes bestimmte geheime Einsichten zugänglich gemacht, die ich zuvor nicht besaß? Wurden wir Neupriester kraft der Weihegnade fit gemacht für den anstrengenden Auszug aus einer allzu vertrauten Kirchenlandschaft? Hielten die Priesterausbildung und die Weihe einen „geistlichen Vitamincocktail“ bereit, der uns Anfänger widerstandsfähiger machte für den Umgang mit den Umbrüchen, die damals bereits in der Luft lagen und die uns alle schneller eingeholt haben als geahnt – mit all den Folgen, die wir bis heute gerne verdrängen? Ja, ein bisschen erhofft man sich als junger Weihekandidat, dass in der Priesterweihe eine mysteriöse Übertragung von Allmacht, Allgegenwart und Allzuständigkeit stattfindet, eine Impfung mit übernatürlicher Energie, gepaart mit der problematischen Einbildung, ich besäße als Priester nun ‚mehr‘ vom heiligen Geist als Sie, liebe Gemeinde; als hätte er einen besseren Draht zu Gott oder zu Petrus als die ‚Normalsterblichen‘, als werde ein Priester wie ein Schamane oder ein Druide mit Geheimwissen, exklusiven Privilegien und Geheimnissen ausgestattet, die den Kleriker zum Vertreter einer „Elite“ macht, zum Träger von Geheimnissen, die nicht oder nur selektiv an die Öffentlichkeit gehören… Als griffen wir Privilegierte gnädig  in eine Schatzkiste, aus der wir den Bedürftigen übernatürliche Gaben austeilen dürfen (oder diese Austeilung verweigern) … Sicherlich kamen bei mir damals große Gefühle hoch - und dazu die Sorge, jetzt bloß nichts falsch zu machen bei der Choreographie der Weihe. Damals war ich bereit, mich einzulassen auf einen uralten Ritus, der uns Neupriester einweist in eine besondere Aufgabe und ausstattet mit geistlichem Reiseproviant. Und doch: Was wurde anders, nachdem mir der Bischof die Hand auflegte?
35 Jahre bin ich nun auf dem Dienstweg. Man kennt sich inzwischen in vielen Bereichen aus, ist im Kirchenjahr zu Hause, beherrscht manches aus dem ff, hat Gebete in- und auswendig parat, predigt zuweilen harmlos redselig daher. Anderes wurde mir nach 35 Jahren fremd, die Heimat Kirche wurde fremder, alte Gewissheiten und selbstsicher heruntergebetete Behauptungen sind angeknackst. Das Vertrauen in die Kirche ging vielen verloren. Der Missbrauchsskandal desillusioniert und schockiert. So viele Zeitgenossen gehen zur Amtskirche und dem Amtsträger auf Distanz. Einer wachsenden Mehrheit ist das, was Kirche verlautbart, tut und feiert, einfach nur noch gleichgültig. Ja, das schmerzt. Doch trotz dieser Brüche mache ich weiter; instinktiv vertraue ich in schwachen Stunden einer gesunden Routine und dem Heiligen Geist, die jeweils erwarteten guten und tröstenden Worte punktgenau zu finden und die liturgischen Zeichen mit schlafwandlerischer Sicherheit zu beherrschen. Als ‚Pilgerbegleiter‘ auf vielen Wallfahrten kenne ich mich aus an so manchen heiligen Orten und bin – das ist die Folge der wiederholten Besuche unbeschreiblicher Stätten - gewissermaßen durch nichts mehr zu überraschen. Vieles ist schon mal da gewesen. Man bewegt sich auf bekannten Gleisen, manchmal mit dem Leichtsinn eines Tänzers auf dünnem Eis. Nach 35 Jahren auf dieser Dienstreise lasse ich die Jahrzehnte wie eine rasante Bahnreise Revue passieren. Ereignisse kommen in der wehmütigen Rückschau in den Sinn, auch Aktionen und Initiativen, die sich im Rückspiegel als überflüssig, vergebliche Liebesmüh, als wirkungslos erweisen. Unzählige Planungssitzungen kommen schemenhaft ins Gedächtnis, auf denen man Sitzfleisch ausgebildet hat, seine Zeit und auch die Zeit der anderen ‚totgeschlagen‘ hat.
Und dann gab es auch das: wunderbare Unterbrechungen und Augenblicke, für die sich ein Priesterleben lohnt. Ich glaube, die Aufgabe der Kirche ist es, nüchtern gesagt, solche heilsamen österlichen Unterbrechungen zu gestalten und Gott Raum zu lassen, damit ER wirkt, ihm diesen Segensraum offen zu halten, nur das Drumherum, nur die Bühne für Seinen Auftritt zu inszenieren. Unersetzbar ist der Dienst, Menschen das erlösende Wort zuzusprechen, das nicht von mir stammt, ihnen eine Kraftnahrung zu reichen, die nicht von dieser Welt ist. Diese Momente, etwas zu geben, was nicht ich bin und habe, sind das, was im Priesterleben zählen; sie sind mir unendlich wichtiger als Organisation und Bautätigkeit. Unersetzbar in der Erinnerung an die 35 Jahre sind die Trauerfeiern, in denen wir uns - allen Ernstes - an das kommende Heil erinnern lassen und die Kostbarkeit jedes Menschenlebens im Gedächtnis halten. Oh ja, es gab in diesen 35 Jahren so viele Namen, Ereignisse, Gesichter, Versuche, Bruchstücke, Orte, Erkenntnisse … auf meinem priesterlichen Weg. Und auch so viel wieder Vergessenes, gleichgültig vertaner Alltag, die immer wieder aufblitzende Freude am Dienst, leider auch der Zynismus und Sarkasmus über den Zustand des Lebensraumes Kirche, in dem man Dienst tut, aber auch das Staunen über die Schönheit der Liturgie, der Gotteshäuser und Kunst in unserer Kirche.
In den 35 Jahren musste auch meine Priestergeneration aushalten, was auch Ihnen, vor allem den Älteren, zugemutet wird: So viele Abschiede, Reduzierung, so viel Absterben, Desillusionierung. Nichts ist mehr selbstverständlich, so vieles fließt … Die Abwärtsspirale im kirchlichen Leben - wie ist sie zu unterbrechen? „Die Zeichen des Heils sind stärker als die Zahlen des Unheils“, sagte Klaus Hemmerle. Oh ja, wir starren wie Karnickel auf die Schlange auf diese Zahlen, die nichts Gutes verheißen, Kirchenaustritte, innere Emigration, Leerraum. Doch wir erleben hoffentlich den heilen Kern unserer Kirche, feiern sakramentale Zeichen, die ich nicht habe, sondern nur Hungernden und Dürstenden weiterreiche. Wir finden und hören Worte, die zu Herzen gehen, geben die Einladung weiter zum großen Innehalten vor Gott, auf den alles ankommt. Wir wollen uns helfen, das „Effata“ zu glauben, das ich in der Taufe dem Täufling im Namen Jesu zuspreche, dieses „Öffne dich“ mit allen Sinnen für das Geheimnis, ohne welches du und ich nicht wären. Dazu sind wir Priester da, um das „Vergiss-mein-nicht“ Jesu wachhalten. Seelsorger richten Jesu Bitte um unser Gedächtnis weiter, denn Er bittet um unsere liebende Aufmerksamkeit.
Diese Sendung dürfen wir Priester wagen trotz mancher Enttäuschung, weil man im Kirchenalltag auch verzweckt wird zum Funktionär, Manager, „Ritendesigner“ und Verwaltungsexperten. Zunehmend zählt man in den Augen der Öffentlichkeit zu den Exoten und letzten Mohikanern. Angesichts des Rückgangs der Priesterweihen stehen wir fast auf der Nulllinie. Immer weniger gibt es von uns, die sich auf die Reise ins Unbekannte im priesterlichen Zeugendienst einlassen. Wer wird das in Zukunft tun - IHN essbar und hörbar gegenwärtig halten, wo doch Christi Angesicht auf Erden tief verborgen und darum übersehbar ist? Ihn in zerbrechlichem Brot und verfliegendem Wort den Gemeinden und den „religiösen Individualisten“ hinüberreichen?
Wir Priester sollten das – ansteckende -Staunen nicht verlieren, dass Er sich auf uns Menschen einlässt, um bei uns zu sein, dass er Menschen findet, die sich ohne Absicht auf die „wertlose Wahrheit“ (Eberhard Jüngel) des Evangeliums einlassen. Wir dürfen vor Gott Menschen sein, die auch in sich eine zunehmende Müdigkeit und Lustlosigkeit erfahren, den Verlust der anfänglichen Begeisterung, das traurige Mitansehen-Müssen einer sterbenden Kirchengestalt, Ohnmacht angesichts des Abwanderns vieler, die früher engagiert dabei waren, den wachsenden Ärger über die Schönrederei derer, die uns weismachen wollen, dass durch die Strukturreformen alles besser werde.
Am meisten bedrückt mich der fatale Eindruck, als plustere sich diese eher armselige Kirche auf, als schiebe sich die Kirche ungebührlich dazwischen, als verwechsle sie sich mit dem lieben Gott, als ginge es bei den strukturellen und synodalen Aktivitäten und schweißtreibenden Reformdebatten um den Bestand der Kirche als solche, um ihr eigenes Überleben, ihren Einfluss, ihre geschickten Strategien der Selbsterhaltung. Der ganze Aufwand, den die Kirche um ihre eigene strategische Positionierung in der Moderne betreibt, geht mir auf den Wecker. Diese zeitraubende und Ressourcen verschlingende Hyperaktivität kreist um eine allzu menschliche Institution. Das Bemühen um die Formierung der Kirchengestalt absorbiert die Aufmerksamkeit für die Nähe des unsichtbaren Gottes. Das nervt mich nach 35 Jahren zunehmend: dieses Getue mancher in der Institution Kirche, der Selbstgenuss, die Selbst-Faszination, die Selbstbespiegelung, auch das Selbstmitleid der Kirche! Als sei die Kirche um ihrer selbst willen interessant. Interessant ist sie nur, wenn sie einen ganz Anderen interessant macht: den verborgenen Gott, der sich nicht aufdrängt. Doch dieses Gerücht von Gottes unentrinnbarer Nähe wird oft auch in der Kirche als eine erledigte Mär von gestern behandelt. Gott wirkt dann bestenfalls als ein sicherer Besitz, den die Kirche wie in einem Behälter durch die Zeit trägt. Dabei vergisst sie: Es geht nicht um das Überleben der Kirche, sondern um Sein Leben, sein Dasein-für alle Welt, um das Bezeugen der Osterbotschaft. Die Auferstehung Jesu ist der Nucleus des Glaubens und das unvorstellbar schön-schwere Ereignis, ohne welches ich nicht Priester geworden wäre. Liege ich falsch mit der Wahrnehmung, dass viele diese Tat Gottes als ein Märchen weltfremder Apostel und Theologen betrachten? Oder als ein Symbol und Impulsgeber fürs Weitertragen der blassen „Sache Jesu“? Und würde die Kirche noch weiterwurschteln, wenn ER im Grab liegen geblieben wäre? Ohne Christus und seine gnadenhafte Präsenz wäre der Priester ein moderner Kirchenmanager, der alles daran setzen müsste, eigenmächtig den Kirchenbetrieb auf Teufel komm heraus irgendwie am Laufen zu halten. Doch – ein solcher Priester wäre eine tragische Figur, ein Ritter von der traurigen Gestalt.
Der Zahn der Zeit nagt nach 35 Jahren an jedem und jeder von uns. Immer mehr gerate ich auch an die Grenze des Schaffbaren. Oft war ich in den 35 Jahren nicht sonderlich kreativ und bin Ihnen Wichtiges schuldig geblieben, habe mich verheddert in hektische und kurzatmige Problemlösungsaktivitäten, geriet in selbstverschuldeten Stress, nahm eine versteckte Machtlust an mir wahr, getarnt als demütige Nächstenliebe; ich wurde zuweilen zum Moralapostel, verbreitete Resignation und erging mich in Rückzugsphantasien, wurde gelähmt vom Zuviel an Erwartungen und dem Ärger an der Starrheit und Unbeweglichkeit mancher Entscheidungsprozesse.
Hoffentlich lerne ich mehr als bisher die Kunst des Lassens, der Selbstbegrenzung, des Sich-Zurücknehmens, den Mut zur Lücke, die Fähigkeit zum Raum Schaffen für andere, den Service des schlichten Wege Bereitens, des Unruhig-Machens und Mitsuchens nach dem Gott, der fehlt und im Unscheinbaren entdeckt werden will. Als Priester möchte ich mich nicht als Mittelpunkt oder allzuständigen Dreh- und Angelpunkt gemeindlichen Lebens halten. Kirche wird auch nach mir und ohne mich weitergehen. Ich hoffe, mich nicht ungebührlich in den Vordergrund zu schieben und dabei vergessen zu machen, dass ich bestenfalls wie der Täufer Johannes nur Zeigefinger bin auf den, der da oben und zwischen uns thront. Ich möchte es mir leisten dürfen, auch ratlos, sprachlos und hilflos zu sein.
Und hoffentlich werden wir uns das Staunen bewahren über das Unfassbare, das auf uns zukommt und zeichenhaft unter uns aufblitzt! Hoffentlich wahrt die Kirche sich den Respekt vor den religiös Uninteressierten, denen, die da draußen sind, arm an Glaubens und Sicherheiten, den von kirchlichen Amtsträgern Verwundeten, den Erschütterten und den stillen Beter-innen, die in unserem kirchlichen Planen kaum noch vorkommen. Dankbar bin ich für so viele, die immer noch, gerade jetzt in dieser oft ziemlich unansehnlichen Kirche ehrenamtlich dabei bleiben. Das ist der Reiz dieser unübersichtlichen Zeit: Ich darf Priester sein in einer Kirche des Übergangs, des Wandels, auch der Abschiede und Abbrüche, des Verlustes von ehedem unhinterfragtem Selbstverständlichen und der noch ungeahnten neuen Entdeckungen …
Vieles im priesterlichen Dienst ist sehr vorläufig und zeitlich begrenzt. Wo ist und bleibt dann noch der bescheidene und doch unverzichtbare Ort des Priesters, wenn alles darauf ankommt, dass Christus die Mitte ist, wenn auch der Priester nur als Ministrant und Assistenzfigur zur Seite treten darf, damit ER zum Vorschein kommt? Vergessen wir nicht: Christus war kein Priester! Im Himmel wird es den Priester, den Bischof und Papst nicht mehr geben …!  Im himmlischen Jerusalem braucht uns niemand mehr. Doch hier auf Erden werden wir ‚gebraucht‘, weil wir alle Pilger sind, angewiesen auf Weggefährten, Wegkundige, Geheimnisträger, Mystagogen, die den Proviant der Liebe Gottes miteinander teilen und sich von Ihm anstrahlen lassen. Wichtiger als die Priesterweihe ist darum die Taufe, die uns alle zu Tempeln Gottes (vgl. 1 Kor 3,16f) erbaut und uns die Befähigung zutraut, uns im Gebet mit Christus zu vernetzen.
Als mir der Bischof vor 35 Jahren die Hand auflegte, wollte er mir und den Kollegen das Mehr Gottes deutlich machen. Darin sagte er uns: Du bist bejaht durch Gott und die Kirche, trotz der Beschränktheit deines Könnens. Versuche also das, was in dir ist, fruchtbar zu machen für die Menschen, damit wir alle in eine Christusbeziehung hineinwachsen und uns gegenseitig aufmerksam machen auf Christi Geist in uns und zwischen uns. Dieser priesterliche Dienst gelingt manchmal etwas langweilig, etwas komisch und ungeschickt. Denn es ist ein Abenteuer, mit Gott hausieren zu gehen und ihn riskant dort zur Sprache bringen, wo er stört, auch an den Orten, wo nach ihm nicht mehr gefragt wird.
Zuweilen scheint es, als seien wir Priester Narren, Clowns, höchst merkwürdige Gestalten, über die immer mehr Zeitgenossen mit dem Kopf schütteln, die irgendwie linkisch im Evangelium herumstochern. Wenn uns das gelänge, einander Lust zu machen auf den Unersetzbaren, auf das Faszinierteste, was es im Christentum gibt: den auferweckten, lebendigen Christus, dann lohnte sich weiterhin diese vor 35 Jahren begonnene Dienstreise … Und dann darf auch der Seelsorger einfach nur dastehen, horchen, staunen und leise andeuten: Gott ist da! „Gott ist gegenwärtig, alles in uns schweiget“ (GL 387). Ein Priester ‚macht‘ Gottes Nähe nicht, er wartet auf Sein Entgegenkommen …. Mehr nicht.
 
Wir sind Arbeiter, keiner Baumeister.
Wir sind Diener, keine Erlöser.
Wir sind Propheten einer Zukunft,
die nicht uns allein gehört. (Oscar A. Romero)         
 
Mit guten Segenswünschen für die vorösterliche Zeit der Vorfreude auf das Fest der Auferstehung Jesu
Ihr
Kurt Josef Wecker