Baroccio Geburt Jesu (002)
Von:Kurt Josef Wecker, Pfr.
Liebe Mitchristinnen und Mitchristen in unserer GdG,
ich weiß nicht, ob wir Ihnen und Euch in den Gottesdiensten ein alle Jahre neues, abwechslungsreiches, jeweils andere Geschmacksnerven ansprechendes ‚Weihnachtsmenü‘ zaubern können. „Früher war mehr Lametta“, heißt es unnachahmlich in einem Sketch des unvergessenen Menschenkenners Loriot. Früher habe ich womöglich anders gepredigt, opulenter, glanzvoller, „lametta-reicher“. Heute spüre ich: Ich bin kein Weihnachtsengel. Mir fehlt das „englische Mundwerk“ (Magdalena Frettlöh). Ich suche nach Worten, das Mensch gewordene Wort zu bezeugen und nach Schlüsseln, den Zugang zum Geheimnis zu öffnen. Wenn wir manche Schlüssel zum Geheimnis verlegt haben, dann steht uns die Kunst bei, damit uns neu die Augen aufgehen.
„Komm her, freu dich mit uns, tritt ein!“ (GL 148). Damit eröffnen wir manche Messfeier. „Kommet, ihr Hirten, ihr Männer und Frauen“, „Ihr Kinderlein, kommet!“, so klingt es in weihnachtlichen Liedern. Lieder sind Lockrufe. Lasst euch nicht lange bitten, nur hereinspaziert! Heute sind wir Gäste bei einem geheimnisvollen Kindergeburtstag. Freier Eintritt am Tag der offenen Stalltür! Kommt und seht! Kommt in diesen geschützten Raum und überzeugt euch, dass euer Weg ein Ziel hat und ihr hier richtig seid. Denn „das habt zum Zeichen: Ihr werdet ein Kind finden, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend“ (Lk 2,12). Hoffentlich sind wir noch neugierig genug auf Weihnachten und keine lustlosen Spielverderber beim nächtlichen Suchspiel. Los also! Entdeckt ihn! Überzeugt euch selbst: „Christus, der Retter, ist da!“
Wie aber gelangen wir hinein in das Geheimnis? Nur dann, wenn jemand es lüftet und uns eintreten lässt. Wer hat mir und dir die Tür ins Leben und in die Glaubenswelt geöffnet? Was, wenn niemand da ist, der mir zum Einweiser in das Geheimnis, zum „Mystagogen“ wird? Ich wünsche mir, dass z.B. die Christmette ein „Türöffner-Gottesdienst“ sein wird. Neue oder selten gesehene Gesichter werden an der Krippe auftauchen. Gelingt es unserer Kirche noch, Türen zu öffnen in die Stallgeschichte von Bethlehem?
Von einem Türöffner-Moment erzählt das diesjährige Weihnachtsbild. Ein sehr inniges, zartes, gefühlvolles Gemälde wird uns in diesem Jahr vor Augen gestellt. „Il Fiori da Urbino“, genannt Federico Barocci (Baroccio) aus Urbino in den Marken / Mittelitalien hat es geschaffen. Er lebte zwischen 1535 und 1612 und malte das Bild um 1597. Es fiel mir bei einem Besuch im Prado in Madrid vor einem Jahr ins Auge. Dort hängt es, weil es der Herzog von Urbino der Königin von Spanien 1605 zum Geschenk gemacht hat. Barocci war ein Künstler im Übergang von der Renaissance und dem Manierismus zum Barock. Er hat sich einige Jahre in Rom aufgehalten, dort auch zwischen 1560 und 1563 den vatikanischen Belvedere-Palast und das Casino in den Vatikanischen Gärten mit Fresken ausgemalt. Vom heiligen Filippo Neri wurde er sehr verehrt. Doch überstürzt zog sich Barocci ab 1563 für die weiteren 47 Jahre in die Provinz, in seine (und Raffaels) Heimatstadt Urbino zurück, weil er den Verdacht hegte, in Rom hätten neidische Künstlerkollegen versucht, ihn mit Gift im Salat umzubringen. Er war ein hochangesehener, wohlhabender, gesuchter Künstler, der für Päpste und mächtige Kardinale gearbeitet hat. Barocci stand in der Nachfolge von Raffael und Correggio. Er war von schwacher Gesundheit und vermochte deshalb nur einige wenige Stunden am Tag zu malen. Ja, dieser viel zu wenig bekannte Barocci schuf ‚im Geist der Gegenreformation‘, treu den 1563 erlassenen Kunstvorgaben des Konzils von Trient - sehr katholisch, sehr kontemplativ und ‚andächtig‘ diese stimmungsvolle Weihnachtsszene. Mir geht Baroccis affektive ‚Geburt Christi‘ nahe. Dieses Bild ist „Auftragskunst“. Und doch: Was für eine wunderbare Idee führt Barocci aus! Es wird den Betrachtenden warm ums Herz. So viel Gefühlstiefe und Menschlichkeit war in den mittelalterlichen Weihnachtsdarstellungen nicht denkbar.
Die Geburt Jesu geschah zur Nacht (Lk 2,8). In diesem ‚Nachtstück‘ führt Gott im dämmrigen Dunkel eines Stalles Lichtregie. Ja, wir spüren in den dunklen Kriegszeiten im Osten Europas, im Nahen Osten die Nachtseite der Welt. „Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt“ (GL 220,5). Eine Geburt wird zum öffentlichen Ereignis. „Hirten erst kundgemacht“. Diese ersten frohen Boten der Weihnachtsbotschaft haben sich durch die Nacht hindurchgearbeitet; die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da. Wunderbar gestaltet der Künstler die nächtliche Stimmung. In einen dämmrigen Stall werden wir zusammen mit den beiden Hirten hineingezogen. Ich fühle mich eingeladen, wie sie einzutreten in den sehr wirklichkeitsnah dargestellten Schutzraum und dem geheimnisvollen, übernatürlichen Lichteinfall zu folgen. Die Mutter und das wie von einer Lichtaura umhüllte Köpfchen des Kindes werden erhellt. Alle Aufmerksamkeit ist auf den Kleinen in der Krippe gerichtet. Weißes Licht umgibt sein Köpfchen, beglänzt seine Armseligkeit. „In dieser hochheiligen Nacht ist uns das Licht aufgestrahlt“, singt die Liturgie. Woher kommt das Bildlicht? Jesus ist nicht im Scheinwerferlicht dieser Welt zur Welt gekommen. Keine Stalllaterne, keine Kerze erhellt den Stall, kein Neonlicht beleuchtet diesen ‚Kreißsaal‘. Das Licht ist das einzig Übernatürliche in dieser so menschlichen Szenerie und kommt aus einer anderen Welt. Ja, es ist die Nacht des offenen Himmels; aus diesem Lebensraum Gottes dringt übernatürlicher Glanz in die dunkle Hütte. Licht auf Gesicht. Das Licht der Welt (Joh 8,12) kommt zur Welt. Wir Betrachter befinden uns in diesem Innenraum. Ein wenig Heu und Stroh bedecken den Boden des Stalles, der eher eine gemauerte Hütte ist.
Für mich am originellsten gelungen in Baroccis Meisterwerk ist die Gestalt des Josef, obwohl dieser im Hintergrund bleibt. Josef steht im Halbschatten des Stalles. Nein, dieser Josef ist kein Zweifelnder, kein alter Grübler, kein Statist, keine Nebenfigur. Sein Zeigefinger wird zum Wegweiser. Nach Mt 1,20-24 wurde Josef vom Engel über das Geheimnis dieses Gotteskindes ‚aufgeklärt‘. Er übernimmt eine ganz entscheidende Aufgabe und wirkt wie ein Mittler zwischen Draußen und Drinnen; er hält die Tür einen Spalt weit offen, als würde er den Vorhang zum Mysterium öffnen und für die erwartungsvoll hineinlugenden, lauschenden Hirten den Zugang zum Allerheiligsten auftun. Ein Engel hat sie auf den Weg gebracht. Und Josef gestikuliert seinen Willkommensgruß: Tretet näher, ihr Fremden und Fernstehenden! Noch stehen die Ankömmlinge vor der Schwelle und sind Randfiguren, doch diese Neugierigen werden hineingerufen und die Ersten sein, die das Christfest mit Josef und Maria feiern dürfen. Selbst ein Schaf drängt durch den Türspalt hinein. Josef versetzt mit dem einladenden Zeigegestus in Bewegung. Schaut euch das Wunder dieser Nacht an! Wir folgen dem Fingerzeig und erblicken das Kind. Josef ermutigt: Egal, wie weihnachtlich gestimmt ihr seid: Ihr dürft, wie die Hirten, näher treten und mitspielen bei diesem göttlichen Krippenspiel! Endlich ist er da, auf den Israels Hoffnung gerichtet war. Entdeckt den Messias – kaum zu glauben! - in der schwachen Gestalt des Kindes. Josef selbst hält sich zurück. Nicht sein Gesicht ist wichtig, sondern sein Zeigefinger, sein Gestus: Ich mache den Weg frei. Das ist seine wichtige Rolle in diesem Krippenspiel und das ist die wichtigste Aufgabe einer ‚josephinischen‘ Kirche: dem Mysterium nicht im Weg zu stehen. Josef lüftet das Geheimnis und macht es öffentlich. Weihnachten ist kein privates Familienfest, kein Kindergeburtstag im kleinen Kreis. Das Kind, das dort liegt, gehört aller Welt! Schaut, was sich hier ereignet hat! Es ist nicht zu fassen! Fremde, neugierige Menschen, unerwartete späte Gäste wie du und ich werden eingeladen, die Schwelle zu überschreiten. Dabei sein ist alles.
Marias Gestalt steht im Zentrum. Sie ist mit schweren Gewandstoffen auffallend üppig gekleidet. In der Darstellung des sorgfältig drapierten Faltenwurfs von Untergewand und Mantel und der grellen Farbgebung - ein leuchtendes Goldgelb und Rosa – kann der Künstler seine Meisterschaft unter Beweis stellen. Marias dunkles Haar ist nicht verschleiert. Kein Heiligenschein umgibt ihr Haupt. Der Gestus Marias - das ist ihr intensiver Blickkontakt zum Kind und die Gebärde der Darbietung. Auf diesen Augen-Blick und auf diese Geste des Staunens kommt es zur Weihnacht an. Ein Miteinander im Blickwechsel. Maria lädt ein zur Meditation des Geheimnisses und macht das Gemälde zu einem Andachtsbild. Sie steht nicht im Weg, sie bleibt in einiger Entfernung zum Kind und harrt still aus vor dem Geheimnis des Glaubens. Was für ein Blick voll gläubiger Intensität! Das Inkarnat der Mutter ist deutlich heller als die Gesichtshaut des Neugeborenen. Sie kann es nicht fassen, denn Er ist nicht zu fassen. Durch sie hindurch kam er zur Welt. Sie lässt Jesus los und gibt wie Josef den Weg frei für uns. Sie lädt uns zur Verehrung des Menschgewordenen ein. Richtet euren Blick auf das Kind! Alles ist ganz still, alles läuft auf das Gotteswunder zu. „Ich sehe Dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen“ (GL 256,4). Der Neugeborene liegt Gott sei Dank nicht ganz unten, bibbernd und splitternackt auf dem harten Boden, nicht straff bandagiert als Wickelkind. Das Gotteskind schläft nicht. Liebevoll in eine blaue Decke bis auf den Kopf warm und geschützt eingewickelt, wurde es gebettet auf einer hölzernen Liegestatt im Krippenstroh wie auf einem Holzaltar. Das Holzgestell des Schuppens über ihm wirkt wie ein improvisierter Baldachin.
Das Kind wird vom Atem weihnachtlicher Tiere gewärmt. Ochs und Esel, die großen Tiere, dürfen überraschend nahe an den Neugeborenen heran. Mit neugierigem Blick drängen sie übereinander gestaffelt an das Kind heran und bekommen auch ein wenig Lichtglanz mit. Sie sind dabei, erkennend und verstehend - wie wir Bildbetrachter in der ersten Reihe. „Der Ochs kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herren; Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht“, heißt es in Jesaja 1,3. „Inmitten zweier Lebewesen wirst du erkannt werden“ (Habakuk 3,2, Septuaginta). Auch wenn der Evangelist Lukas sich darüber ausschweigt - diese beiden Kreaturen müssen einfach dabei gewesen sein. Sie sind mehr als Staffage und Stallzubehör, sie gehören zu den Erstzeugen des neuen Adams. „Muh!“ und „Iah!“ – das sind die ersten Weihnachtslieder, die die stille heilige Nacht mit dem ‚Seufzer der Kreatur‘ unterbrechen. Nach traditioneller Deutung stehen sie für Juden und Heiden. Alle Kreatur ist zum Lob Gottes aufgerufen, wie gerade Franziskus hervorhob, der vor 800 Jahren in Grecchio die Menschlichkeit der Christgeburt erstmals in Szene setzte. Werden wir die Stelle dieser beiden Tiere einnehmen und uns genauso verstehend und andächtig Ihm annähern?
Barocci beherrscht in dieser Nachtszene die Kunst des „Chiaroscuro“, den meisterlichen Umgang mit Licht und Schatten und versetzt uns in die Atmosphäre des Hell-Dunkels, welches die Heilige Nacht so prägt. Wir als Betrachter sind gewissermaßen im Bilde, bereits im Stall angekommen und dürfen die konzentrierte, kontemplative Haltung der Gottesmutter mitvollziehen. Will ich dem Fingerzeig des Josef folgen? Will ich nähertreten und in diesem Bild den eigenen Standpunkt finden?
Welche Weihnachtsgefühle weckt dieses Gemälde? Seit mehr als 35 Jahren bin ich nun Priester. Alle Jahre wieder versuche ich das Fest göttlicher Annäherung zu verstehen. Wie können wir einander Weihnachten nahe bringen, so wie es ein Künstler vermag, damit das Fest mehr ist als ein alle Jahre wiederkehrendes sentimentales Märchen aus Tausendundeiner Nacht, mehr als schmerzliche Erinnerung an unwiederholbare Kindheitstage oder die momenthafte Gedankenflucht in eine verlorene Heimat? Gelingt es uns, je älter wir werden, dass wir „gleichzeitig“ werden mit dem Geheimnis der Christnacht? Weihnachten weckt ambivalente religiöse Gefühle. Es ist schön schwer. Ich wünsche es uns, dass uns die ‚Liveschaltung‘ nach Bethlehem gelingt und uns 2024 Menschen begegnen, die wie Josef den Türöffner-Dienst in das Geheimnis leisten. Wir werden alle buchstäblich hineingewickelt in das ganz und gar nicht goldene, sondern erdfarben glänzende Geschenkpapier des Weihnachtsevangelium - wie in die Windeln Jesu, die im Sommer 2023 in Aachen bei der Heiligtumsfahrt verehrt wurden. Wir alle dürfen Mitspieler sein bei diesem Heiligen Spiel der Weihnacht; denn allen wird Er geboren. Hereinspaziert in das öffentliche Geheimnis!
Ich danke den Vielen, die in unseren Pfarren in krisenhafter Kirchenzeit das Gemeindeleben verlebendigen und den Türöffner-Dienst des Josef heute in Tat und Wort verrichten. Im Helldunkel unserer Tage wünsche ich Ihnen und Euch das Licht der Weihnacht und ein gesegnetes 2024!
Ihr Kurt Josef Wecker, Pfr.