Von:von Kurt Josef Wecker
Ist jemals die Tragkraft eines Gebets plastischer dargestellt worden als in diesem ergreifenden Einzelmotiv aus dem 'Jüngsten Gericht' Michelangelos in der römischen Sixtinischen Kapelle?
Wir sehen zwei Menschen im 'letzten Akt', die von der starken Hand eines Engels an einer Glaubenskette empor gezogen werden. Zwei Auferstehenden, zwei offensichtlich Auserwählten wird eine Rettungsschnur zugeworfen. Sind es Eheleute, Mann und Frau? Oder hängen sie zufällig zusammen an dem Seil des Rosenkranzes? Sie klammern sich gemeinsam an diesen 'Rettungsanker'. Sie blicken besorgt nach oben auf die muskulöse Gestalt des Rettungsengels. Und man fragt sich bang: Wird die Schnur reißen oder wird sie beiden zum Heil?
Vor 459 Jahren starb hochbetagt der geniale Maler dieser Szene. Zwischen 1536 und 1541 schuf Michelangelo das 'Jüngste Gericht' in der Vatikanischen Papstkapelle. Gezeigt wird in diesem Spätwerk ein Augenblick, ein unvorstellbares Ereignis: das Geschehen des Gerichts Jeder Betrachter, der das grandiose Wandgemälde nicht nur cool als Tourist wahrnimmt und abhakt, fragt sich: Was wird dann aus mir, wenn der Herr einst wiederkommt? Will ich dann auch dabei sein? Und wie werde ich vor Ihm stehen? Worauf wird es ankommen, wenn Er über mich das Urteil spricht? Wird einer da sein, der mir den Rettungsring zuwirft?
Michelangelo war bei der Entstehung des Freskos ein von Leid und Enttäuschung gezeichneter Künstler. Die Weltfreude des Renaissance-Menschen war dahin, die zerstörerische Einnahme Roms 1527, die Glaubensspaltung und auch persönliche Rückschläge und Verluste haben das ohnehin eher schwermütige Wesen des Künstlers weiter verdüstert. Aus dem riesigen Fresko (mit 391 Personen!) in der Vatikanischen Sixtinischen Kapelle werden zwei Menschen und ein flügelloser Engel fokussiert. Es sind zwei, die aus der Tiefe kommen und an einer rettenden Kette hängen. Sie haben die Auferstehung 'hinter' sich und schweben dem Gericht entgegen. Angstvoll klammern sich an den Rosenkranz wie an ein Rettungsseil. Die Rettungstat des Engels bewahrt sie vor dem Absturz. An dieser Schnur werden sie durch starke Hände nach oben gezogen, in die Nähe des richtenden Christus. Dieser wird scheiden, entscheiden, auserwählen oder in die Unterwelt abstürzen lassen. Hat Er bereits über diese beiden entschieden? Im Schrecken des Jüngsten Gerichts ist es eine fast intime Szene, obwohl die beiden dunkelhäutigen Menschen nicht erlöst wirken. Es heißt, niemand auf diesem Gemälde lächelt. So viele Menschen stürzen in diesem von Christi Erscheinen bewirkten Wirbel nach unten, werden hinabgestoßen oder von einer unwiderstehlichen Sogkraft hinabgezogen; doch diese beiden für uns anonymen Menschen gewinnen an Höhe. Sie hängen gemeinsam, quasi als Seilschaft in einer unlösbaren Schicksalsgemeinschaft verbunden, am seidenen Faden, an einer Gebetskette, vermutlich dem Rosenkranz. Der eine sehr verkrampft, der andere deutlich von der Schwerkraft seines Leibes belastet. Wird die Schnur halten? Wird sie das Gewicht zweier Menschen tragen? Oder zieht sie die Schwerkraft ihrer Leiber unerbittlich hinab? Die Rettung des Menschen ist nichts Menschenmögliches. Bei diesen beiden geht es buchstäblich „wie am Schnürchen“. Das ist übrigens eine Redewendung, die sich vom Rosenkranzgebet ableitet.
Manche sehen in diesem Motiv ein starkes Bekenntnis des Künstlers zum katholischen Glauben, die Nähe des Malers zur katholischen Reformbewegung. Dem evangelischen „allein aus Glauben“ scheint der Katholik Michelangelo das gute, verdienstliche Werk des Rosenkranzgebets entgegenzusetzen. Es sieht so aus, als verherrliche der Maler die Kraft und Bedeutung dieser religiösen Gebetsübung. Sein Zeitgenosse Luther hat das Rosenkranzgebet abgelehnt (nicht jedoch die biblisch geprägte Marienverehrung!). Und viele sehen darin bis heute ein fremdes Gebet, das man mechanisch und ohne innere Anteilnahme abspult. Kann von der Pflege dieses Gebets das Heil abhängen?
Die zwei Menschen hängen an diesem alten Gebetsutensil. Es sind Laien, die in ihrem Leben – vielleicht gemeinsam – das Rosenkranzgebet gepflegt haben. Der Rosenkranz war ein 'Laienpsalter'. Den Betern halfen Gebetsketten, geknotet oder mit Perlen durchsetzt. Paternoster-Schnüre, Ave-Schnüre und eben der 'Rosenkranz' begegnen uns seit dem Hohen Mittelalter. Das waren keine Amulette oder Talismane, sondern Heilszeichen für eine 'zählbare Frömmigkeit'. Gebetszählschnüre gibt es nicht nur im katholischen Christentum, sondern auch im Islam. Die Muslime nutzen die Gebetsketten (genannt: Misbaha bzw. Sibha), damit sie sich im Ertasten der Perlen im Alltag an die 99 Namen Gottes erinnern.
Michelangelos unglaubliche Kunst setzt den Augenblick der Entscheidung über Heil oder Unheil in Szene: „Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde“. Soll es am Ende das unscheinbare Rosenkranzgebet sein, das uns gemeinsam rettet. Oder eine andere von mir unterschätzte Geste? Wird uns am Ende gar das eine, wahrhaft inbrünstig gestammelte Gebet, die eine Liebestat retten? Hat dieses wahrhaftige Beten 'im Geist und in der Wahrheit' das „Gewicht der Ewigkeit“? Vielleicht werden wir nur ganz selten in unserem Leben das Vaterunser oder den Rosenkranz geistesgegenwärtig sprechen. Das Rosenkranzgebet ist ein einfaches und zugleich 'schweres' Gebet, es kann auch von 'müden Christen' - wie nebenbei, im Gehen, bei der Arbeit - gesprochen werden. Der Rosenkranz ist nach einem Wort des verstorbenen Innsbrucker Altbischofs Reinhold Stecher „kein Sessellift, sondern ein Mountainbike der Frömmigkeit“. Dieses Wiederholungsgebet führt in die Konzentration, ist gewissermaßen eine wiederholte 'Tiefenbohrung' in die Welt des Glaubens. Ja, der Rosenkranz vermag im Alltagsleben den Weg in die „Tiefe“ zu bahnen. Im Augenblick des Gerichts aber führt er in die „Höhe“. Wer sich zu Lebzeiten in den Abgrund Gottes gestürzt hat und an der 'Glaubenskette' festhielt, wird am Tag des Gerichts emporgehoben – so die ernste Bildpredigt Michelangelos.
Wie viele Menschen – 'einfältige' und 'kluge' - in Vergangenheit und Gegenwart haben in diesem Gebet Halt gesucht, haben sich an den eisernen Proviant dieser Worte wie an ein Rettungsseil geklammert? Sie konnten es stammeln, wenn ihnen auch sonst nichts mehr einfiel. Ich denke an den berühmten Brot-Rosenkranz eines Kriegsgefangenen aus Dachau, der auch in den Vatikanischen Museen gezeigt wird. Der Gefangene aus Dachau hat sich Brotstücke vom Mund abgespart und sie an Fäden aus seiner Häftlingskleidung aufgereiht. Ähnliches wird von polnischen Häftlingen aus Auschwitz erzählt. Brot-Rosenkränze haben Menschen geistlich über Wasser gehalten.
Am Ende heißt es nicht „Rette sich, wer kann...!“ Wir werden eben nicht allein gerettet, sondern stets mit dem anderen, „im Doppelpack“. „Einer trage des Anderen Last“ (Gal 6,2). Einer sorge sich um das Heil des anderen. Bewegend ist, dass zwei Menschen gemeinsam an diesem Rettungsseil hängen, welches der Engel ihnen hinhält. Womöglich würde die Glaubenskette reißen, wenn der eine Mensch den anderen wegträte, um sich vermeintlich leichter retten zu lassen.
„Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.“ (Joh 12,32). Das Wandgemälde Michelangelos wirkt wie eine wortlose gewaltige Predigt über dieses Bibelwort.
Gerade das Detail mit der an der Glaubenskette hängenden Zweiergruppe unterstreicht das Schriftwort. „Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes“ (Lk 1,42), heißt es im Rosenkranz. So wie im Fresko Christus im Mittelpunkt steht, so ist der Rosenkranz kein reines Mariengebet, sondern auf Christus, seinen 'Leib', hin zentriert. Im Blick auf dieses Motiv könnten wir den endzeitlichen Rosenkranz beten mit dem Zusatz: „... der kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten“...
Fragen wir uns: Mittels welcher Zeichen halte ich im Alltag Verbindung zum verborgenen Gott? Hilft mir das Rosenkranzgebet dabei, die Verbindung ‚nach oben‘ nicht abreißen zu lassen? Ist meine Verbindungsschnur zu Gott strapazierfähig, reißfest? Wem werfe ich sie zu? Oder habe ich den Kontakt zu Ihm gekappt? Wen will ich 'mitnehmen' hin zu Gott? Wir Menschen brauchen 'Glaubensketten', um uns an das Geheimnis heranzutasten. Wohl dem, der eine solche Glaubenskette als Rettungsseil hat, für sich und den Anderen!
Michelangelo schreibt in einem seiner Gedichte: „O jene Kette reiche, Herr, mir dar, /Die alle Himmelsgabe an sich knüpft: Den Glauben, den ich fest umklammern möchte. / (…) Schließt Glauben nicht des Himmels Pforten auf?“
Ihnen und Euch einen segensreichen Rosenkranzmonat Oktober
Ihr Kurt Josef Wecker