Bildbetrachtung Weihnachten 2021

Wenn der Himmel in unsre Nacht fällt

Datum:
Fr. 10. Dez. 2021
Von:
Kurt Josef Wecker, Pfr.

Mehr Licht!

So soll Goethe kurz vor seinem Tod ausgerufen haben! „Mehr Licht“ am Ende des Tunnels - das fehlt uns allen. „Epiphanie“ heißt das weihnachtliche Ereignis, das dem Geschehen der Geburt Jesu einen besonderen, lichtvollen Akzent gibt. Gott ist ‚am Aufglänzen‘. Weihnachten ist nichts Virtuelles. Das Kommen Gottes ist eine ‚Präsenzveranstaltung‘. Gott tritt in Erscheinung, er kommt ‚im Fleisch‘ zum Vorschein und geht nicht auf „soziale Distanz“. Und doch bleibt es eine sehr verborgene Epiphanie. Dieses Ereignis denkbar größter göttlicher Annäherung kann keine Kirche inszenieren, veranstalten oder verhindern, denn die Feste der Kirche sind gottlob kein Privatbesitz der Kirchen oder der ‚Frommen‘; denn es kommt – der Heiden Heiland! So etwas Schönes und, ja: Schrilles kann sich nur Gott ausdenken! Der zu uns herunter gekommene Gott ist kein Katholikengott, kein Kirchengott, kein Sippengott; er kommt für alle Welt zur Welt, gerade auch für unerwartete und fernstehende Gäste, für „Seltengeher“ ohne ‚Bonitätsprüfung‘, für stolpernde Gottsucherinnen und -sucher. Für sie gilt: Ihr seid willkommen! Dabeisein ist alles! Ihr dürft in der ersten Reihe sitzen! Weihnachten ist die Zeitenwende, der Tag der offenen Tür - auch wenn die Pandemie erneut die Schwellen zu unseren Kirchen hoch und die Türen in die Gottesdienste eher eng macht; auch wenn - gefühlt - Corona unsere Zeit in eine Epoche vor und seit/nach Covid -19 trennt. Das Wunder göttlicher Herablassung zeigt sich nicht nur jüdischen Hirten im Nahbereich, sondern weitgereisten heidnischen Männern, die plötzlich und unerwartet vor Ihn - wie vor eine gewaltige Energiequelle - geraten. Am Ende einer langen Reise durch die Finsternis dieser Welt, einem über Bethlehem verglühten Stern hinterher, feiert in diesen Besuchern meine schillernd-heidnische Welt Ankunft beim Kind. Für diese Weitgereisten war nicht entscheidend, ‚sich zu finden‘ und ‚zu sich zu kommen‘. Nein, sie werden über sich hinaus hinauswachsen, auf Neues stoßen, außer sich geraten. Diese Männer im grellen Gegenlicht werden am Ende eines Suchspiels zu glücklichen Findern eines Schatzes, den sie so gar nicht gesucht haben. Und das muss uns alle Jahre neu erzählt werden, uns, die wir mit abgespeckter Hoffnung fragen: „Kommt noch etwas in meinem Leben?“ Weihnachten sagt mir: Hier und heute und nicht erst am Ziel meiner Lebensreise wartet Schöneres auf mich; mir kommt ein Licht entgegen, das ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ersehnt habe. Das Beste kommt erst noch …!

Annäherung an ein ‚Haus aus Licht‘

Die Schweizer, die Züricher Künstlerin Maya Armbruster-Wartmann (1913-1999), die auch viele abstrakte Werke schuf, hat sich in der zweiten Hälfte ihres Künstlerinnenlebens auch religiösen Motiven zugewandt. In manchen Deutschschweizer Kirchen finden sich Spuren ihres Schaffens. Ihr Bild „Die Könige an der Krippe“ deutet die Annäherung an „ein Haus aus Licht“ (E.M. Kaschnitz) nur an. Die Künstlerin schafft ein strenges Bild. Wir vermissen Vertrautes. Der armselige Stall, die Krippe mit Ochs und Esel, die Engel und die Heilige Familie, der Anblick der Armseligkeit des Gottesbabys – all das fehlt. Die Heilige Nacht der Magier wird verfremdet ins Bild gebracht. Weihnachten muss alle Jahre neu als eine andere Geschichte einleuchten, darf nie allzu vertraut und heimelig werden, sollte gegen den Strich gelesen werden. Die namenlosen Gäste, die wir auf unserem Bild nur als Rückenfiguren wahrnehmen, werden angelockt von einem überirdischen Glanz. Diese Sucher sind mehr als Besucher; sie werden zu Pilgern verwandelt. Kein Königsportal, sondern eine Öffnung in einer Mauer wird für sie zum Tor ins Paradies. Nazareth-Pilger kennen ähnliche höhlenartige Häuser; sie sind noch erkennbar in der Verkündigungskirche von Nazareth, als das Arme-Leute Haus der Maria. Ein grob gemauerter Raum wird zum Gnadenort, zur Gnadenkapelle. Oh ja! Gottes Wort blitzt auf an einem seltsamen Ort. Die Ankömmlinge draußen vor dieser Tür wirken, als scharen sie sich zu später Stunde um ein überirdisches Licht in irgendeiner glanzlosen Hütte Bethlehems. „Mache dich auf, werde Licht, denn dein Licht kommt“ (Jes 60,1-2), so bringt uns der Prophet im Advent auf den Geschmack der Weihnacht. Grelles, doch nicht künstliches Gegenlicht blendet und strahlt die Drei, die wenig heimelige Umgebung und uns Betrachter an. Es bricht aus der Öffnung. Gott ist Licht. Gott verbirgt sich, ist unfassbar ‚heißer‘ als der Sonnenball. Gott ist Feuer, so erfuhr es Blaise Pascal in seiner Berufungsstunde. Das Licht ist Ausdruck des Gott-nicht-sehen-Könnens. Die Lichtsymbolik ist nicht zufällig von der Künstlerin gewählt: Weihnachten ersetzte im vierten Jahrhundert in Rom nach dem Tag der Wintersonnenwende das Sonnengottfest, den Tag des ‚Sol invictus‘, der unbesiegbaren Sonne. Alle Jahre wieder erleidet die Sonne im Winter der Nordhalbkugel eine Niederlage, erhebt sich trotzdem mühsam und langsam und gewinnt erneut am Himmel an Boden. Weihnachten in diesem Weltdunkel ersetzt diesen Lichtkult, ist ein öffentliches, ein „kündlich großes Geheimnis“ (1Tim 3,16). Die Öffnung zum Mysterium tut sich zwar weit auf - aber können wir uns in einen solchen Glanz hineinwagen? Wo geraten wir da hin? Wir sehen nicht die Blicke, das Mienenspiel der Ankömmlinge; wir können nur ahnen, was und wen diese Ankommenden blinzelnd wahrnehmen. Immerhin, wir erkennen die schwarze Gesichtsfarbe des stehenden Königs. Es sind Männer mit prachtvollen, wallenden roten und blauen Gewändern, gekrönte Häupter. Auf ihren uns abgewandten Gesichtern spiegelt sich der Abglanz dessen wider, der – wie es in den fremden Worten des Credos heißt - ‚Licht vom Licht‘ ist. Goldgelbes Licht, das an die göttliche Natur des Neugeborenen erinnert. Uns muss die Weih-Nacht geschenkt werden, damit uns das unverbrauchbare Licht aus der Fülle Gottes aufgeht - eine „Herrlichkeit“, die den drei Mächtigen dieser Welt einleuchtet. Das Licht, das wir hier sehen, kann man allein glauben. Manche Menschen, die an der Grenze zum Tod standen, berichten von ihren Nahtoderfahrungen: sie erzählen, dass sie in dieser Grenzerfahrung einem unfassbaren Licht entgegengehen, das auf sie wartet und sie anzieht und sie in Empfang nehmen möchte.

Schwellenfiguren

Nein, nicht die Könige sind blendende Gestalten und strahlende Erscheinungen; sie werden im fremden Licht des Göttlichen zu lichtvollen Menschen verwandelt. Danach werden sie wieder in die Dunkelheit eintauchen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden; in ihrer Erinnerung werden sie bleiben, auch wenn sie gehen. Weihnachten – das ist das Verlangen nach Nähe; doch diese Drei werden nicht näher herantreten; sie bleiben draußen, wagen nur sanfte Annäherungsversuche. Sie üben sich in sozialer, nein: ehrfürchtiger Distanz. Sie bleiben an der Schwelle zum Heiligtum, sind also Schwellenfiguren. So wie Moses vor dem brennenden, nicht verbrennenden Dornbusch scheu die Theophanie Jahwes erlebt, so werden diese Drei von dem überwältigenden Geschehen überrascht und wählen die Gebärde der Anbetung. Sie kommen nicht mit leeren Händen, sie haben goldene, exotische, duftende Gaben in den Händen, die sie nun nicht mehr festhalten müssen. Der matthäischen Erzählung nach sind sie Wissende, königliche Sterngucker, die gewohnt sind, nach oben zu schauen; doch hier und heute blicken sie auf den herab, der unseren Augen verborgen bleibt, auf den auf unsere Erde gefallenen Stern, auf das in unsere Untiefen gekommene „Kindlin“ (so übersetzt Martin Luther Mt 2,11). Diese neugierige Rückenfiguren verwehren mir den Blick ins Innere. Sie wagen sich nicht tiefer hinein, versperren mir noch die schöne Aussicht auf das Geheimnis. Sie beäugen ein Kind und begreifen in einem Augenblick: Wir sind am Ziel und einfach nur da - „in ungläubigem Staunen“ (Navid Kermani). So angestrahlt sind sie, dass man ihnen eigentlich eine Schutzbrille reichen möchte, damit der gleißende Lichtglanz sie nicht blendet. Wir wissen nicht, was sie sehen. „Aufklärung‘ wird uns von der Künstlerin nicht geboten. Gott verbirgt sich im Licht. Um mehr zu erfahren, müssen wir bei Matthäus nachschlagen und lesen, was sie sehen. Das verschwenderisch ausgegossene Licht, das von einem Kleinen ausgeht. „Das Volk, das im Finstern sitzt, hat ein helles Licht gesehen“ (Jes 9,1). Eigentlich war Jesus nur ein kleines Licht, das in das Dunkel dieser Welt gehalten wird, nur eine senfkornkleine Pünktchen-Existenz. Und doch ist er der Dreh- und Angelpunkt der Welt. Die heiligen Vorläufer laden uns ein, dahinter zu bleiben, geduldig zu warten, bis sie mir den Weg frei machen und mich in der ersten Reihe stehen oder knien lassen. Wie in einer Warteschlange stehen wir an, um danach vor den fernnahen Gott zu geraten und durch den Liebesblick dieses Einen ‚geimpft‘ zu werden.

Lieben ist Warten

Lieben ist Warten“, sagt Simone Weil, kein Zupacken, kein Sich-Vordrängeln und Besitzen-Wollen. Noch haben wir Zeit, um uns hinter dem Rücken dieser Drei Gedanken zu machen, was wir erwarten, wenn wir nur mit unseren Augen diese Öffnung durchschreiten. Auch wenn wir sprachlos und mit leeren Händen präsent wären - wir sind willkommen! Vielleicht geht uns auf, dass die ‚Sonne der Gerechtigkeit‘ (Mal 3,20) buchstäblich ‚unter uns‘ aufgetaucht ist, das Licht der Welt, das heute das Licht der Welt erblickt. „Und Christus?“. Kafka neigte den Kopf. „Das ist ein lichterfüllter Abgrund. Man muss die Augen schließen, um nicht abzustürzen“, so der Jude Franz Kafka im Gespräch mit Gustav Janouch. Allein in den Augen des Glaubens und in der Fantasie vieler Maler-innen geht von diesem Neugeborenen der Glanz des Himmels aus. Der Evangelist Matthäus spricht nicht von einer Erdhöhle und einem Krippentrog; er erwähnt beiläufig ein ‚normales‘ Haus in Bethlehem (Mt 2,11); und die drei Könige sahen nichts Weltbewegendes: nur das Kind bei Maria, seiner Mutter. Mehr nicht! Dieses Wenige musste ihnen und muss uns reichen. „Selig, die nicht sehen und doch glauben“, dass uns im Unscheinbaren Gott entgegenleuchtet. Das moderne Bild zieht den Vorhang weg von dem gewöhnlich anmutenden Kleinkind, deutet eine kaum wahrnehmbare Gottesspur an.

Weihnachten – die „allerneuende Klarheit“ Gottes kommt

Lichtbedarf haben wir alle, weil die scheinbar nicht enden wollende Corona-Situation und der Zustand des Planeten Erde viele hoffnungslos macht. Wir sehnen uns nach Orientierung. Wir wollen es wieder hören, dieses Wort vom ersten Schöpfungstag (Gen 1,2f): „Es werde Licht!“ Viele Kirchenlieder (z.B. GL 220,5; GL 84; GL 252,4) artikulieren unseren Lichtbedarf. Wir ‚brauchen‘ Weihnachten. Wer 2021 Weihnachten feiert, tritt mit ‚gemischten Gefühlen‘, scheu und sprachlos, in die Nähe dieses unausschöpflichen Glanzes. „Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.“ (1 Joh 1,5). In diesem Licht sehen wir auch unser eigenes zerbrechliches und versehrtes Leben. Vielleicht bleiben auch wir „Schwellengestalten“ und wagen nicht den letzten Schritt hinein ins Geheimnis. Was würde mich hindern, näher zu treten und mich Ihm zu stellen? „Unsere tiefste Angst ist es nicht, ungenügend zu sein. Unsere größte Angst ist, dass wir unermesslich machtvoll sind. Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, die uns am meisten Angst macht“, sagte Nelson Mandela. Darum sind wir angewiesen auf das fremde Licht, das sich auf uns legt (2 Kor 4, 6) und die Angst nimmt. Weil so vieles in dieser Welt und auch in der Kirche seinen Glanz verliert, brauchen wir das andere Licht der Weihnacht. Das Kind bittet leise: Glaubt an mich, dieses Rest-Licht, das seit 2000 Jahren in der Welt ist und das wir in dieser uns ratlos machenden Zeit womöglich nur mit den ‚Nachtsichtgeräten‘ des Glaubens wahrnehmen. Das Kind bettelt um das Weihnachtsgeschenk meiner liebenden Aufmerksamkeit: Glaubt an mein leises Erscheinen unter euch - trotz allem Dunkel, das wir einander bereiten, das uns zugemutet wird und uns in den Gewalten der Natur und des Mikrokosmos zu schaffen macht. Dieses Licht muss reichen für die vor uns liegende Zeit. Das Christusereignis in stiller heiliger Nacht ist kein vorübergehender Lichtblitz. Nein, es ist nicht alles Gott, was in dieser Welt glänzt; und Jesus ist keiner dieser Götter und Halbgötter, die nur auf der Durchreise sind. ER ist ein Besucher, der bleibt. Friedrich Hölderlin dichtete 1802 in seiner ’Friedensfeier‘: „Denn manches mag ein Weiser oder/Der Treuanblickenden Freunde einer erhellen, wenn aber/ Ein Gott erscheint, / auf Himmel und Erd und Meer/ kömmt allerneuende Klarheit.“

Das wünsche ich Euch und Ihnen zur Weihnacht: Eine Lichtspur von der „allerneuenden Klarheit“ Gottes möge sich auf unseren Gesichtern und in unseren „aufgescheuchten Seelen“ widerspiegeln.

Kurt Josef Wecker, Pfr.

 

Das dazugehörende Bild “Die Könige an der Krippe” von Maya Armbruster-Wartmann liegt in den Kirchen unserer Gemeinde aus