© Bild: Christiane Raabe In: Pfarrbriefservice.de
Kreuz
Gedanken zu einem Osterbild von Kurt Josef Wecker
Wenn ich in Rom die Kirche „Santa Maria sopra Minerva“ nahe des Pantheons besuche, dann gerate ich vor die Skulptur des völlig nackten auferstandenen Christus, wie ihn Michelangelo (1519-1520) aus Marmor gemeißelt hat. Als Zeichen seines Triumphs über den Tod scheint Christus mit dem Kreuz als Siegeszeichen im Arm mühelos und entfesselt dem Grab erstanden zu sein und alle irdischen Textilien und Leichentücher hinter sich gelassen zu haben. In der Antike wurde die Nacktheit mit Göttlichkeit verbunden. Und der jugendliche Auferstandene wirkt wie Herkules oder Apollo. An Michelangelos Figur wurde einige Jahre später aus Prüderie die Scham Jesu mittels eines nachträglich hinzugefügten vergoldeten Lendenschurzes bedeckt. Bis heute ist es ein Wagnis, Christus völlig unverhüllt und entblößt ins Szene zu setzen. Eine Schwäche dieses grandiosen Kunstwerks ist, dass Michelangelo auf die Wundmale am Auferstehungsleib verzichtet hat. Dieser völlig makellose Christusleib steht darin im Widerspruch zum Evangelium, das immer hervorhebt: Der auferweckte Herr ist nach Ostern gerade an seinen Wundmalen als der gekreuzigte Jesus zu identifizieren. Auf ewig ist Jesus der mit fünf Wundmalen Versehrte.
Ganz anders stellt uns der anonyme Maestro della Madonna della Misericordia, vielleicht der Sohn Taddeo Gaddis (1290 bis 1366), Giovanni Gaddi (1333-1383), den Auferstandenen vor Augen. Gaddis berühmterer Vater war ein Schüler Giottos aus Florenz. Das Bild – die Seitentafel eines Triptychons - befindet sich heute in der Pinakothek der Vatikanischen Museen in Rom.
Christus tritt in Erscheinung, er tritt uns in den Weg. Wir sehen den Geheimnisvollen stehend, barfüßig auf der flach auf dem Boden liegenden Grabsteinplatte. Das Gemälde fällt auf, wegen seiner starken Vordergründigkeit. Christus allein wird uns als Ganzfigur im Bildvordergrund zentral präsentiert: Der Auferstandene als Sieger über den Tod. Er steht vor einem Felsvorsprung, dem offenen Eingang in die dunkle Grabhöhle. Er befindet sich in einem ansonsten menschenleeren Ostergarten, üppig - mediterran mit Blumen, Früchten und einer Palme bewachsen. Doch das Bild will keine Frühlingsgefühle wecken, denn Ostern ist keine Frühlingsbagatelle. Hier geschah eine unfassbare und unausdenkbare Zeitenwende. Das signalisiert dieses Bild: Der Himmel ist golden. Ostern ist ein wie von Himmelslicht umflossenes Ereignis: es blitzt auf der „Morgenglanz der Ewigkeit“.
Christus auf Augenhöhe. „Ich bin da!“ Unübersehbar. Wir nehmen Christus in Augenschein, betrachten staunend das Unausdenkbare, „die Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi“ (2 Kor 4,6). In der Gestalt dieses Einen ist Gottes Liebe unter uns anwesend. Ausschließlich die Begegnung mit dem Auferstanden zählt! Er zeigt sich, er, der sagt: Ich lebe! Ein leiser Sieg über den Tod, dieser Augenblick nach der Auferstehung. Das etwas statische, unspektakuläre Bild erzählt nicht das Osterereignis. Christus, der „neue Adam“ und „Erstling der Entschlafenen“ (1 Kor 15,20-22), offenbart sich seltsam reglos und wirkt überzeitlich angesichts des alles erschütternden, dramatischen Ostergeheimnisses, das alles auf den Kopf stellt. Denn am Ostermorgen ist dem Tod etwas passiert, endgültig. Leise setzt sich der österliche Sieger in Szene und will uns nicht mit Macht überwältigen. Eigentlich sind die Ostererzählungen des Evangeliums temporeich, ein Hin und Her, ein Laufen und Weglaufen, ein Drehen und Wenden. Doch dieses Bild ist langsam und macht uns langsam. Ein lautloser Triumph, keine mitreißende Siegesmeldung, keine auftrumpfende Siegergeschichte nach einem umwerfenden Siegeszug, kein Verklärungslicht, keine lichtumflossene Gestalt, keine Auffahrt, kein Schweben, keine Osterpredigt, kein dramatisches Duell mit dem Tod und seinen Wächtern, keine segnende Geste des Auferstandenen. Der Salvator und Christus-Victor – unbeweglich vor uns, in voller Lebensgröße, sehr kontrolliert, von feierlicher Monumentalität, Strenge, Unberührbarkeit, Würde. Pure Anwesenheit! Aber auch Fremdheit. Bist du es, Herr? Die Wahrheit tritt mir gegenüber als Person! Der Auferstandene allein lässt sich sehen, er, der zu guter Letzt auf uns zukommen wird. Das Bild lädt ein zur Annäherung mit den Augen, nicht zur Berührung, nicht zu überschwänglichem Osterjubel, sondern zu schweigendem Innehalten.
Dieser Auferstandene trägt mit der Rechten die weiße Siegesfahne, die himmelwärts gerichtete Fahnenstange mit dem kleinen goldenen Kreuz vor dem Goldhintergrund des Himmels. Dieses Kreuz ist nicht das Marterinstrument vom Golgothafelsen, sondern die „crux invicta“, ein Siegeszeichen., ein Prozessionskreuz. Solche Triumphzeichen kennt man auch von anderen Osterbildern. Die Osterfahne, die wegen des roten Kreuzes an eine Kreuzfahrerfahne erinnert, weht im Wind.
Auffallend: Christus erscheint in voller Stofflichkeit. Eine naheliegende und doch ‚kinderschwere‘ Frage: Was trug der Auferstandene nach der Auferweckung? Ich verbinde die Zeitenwende des Ostermorgens eher mit einem Kleiderwechsel. Christus, der das Grabtuch zurücklässt und in die weißen Gewänder der Verklärung wie in überirdisches Licht gehüllt ist. Ungewöhnlich auf dem Gemälde ist das Gewand des österlichen Herrn. Wer hat Christus, der nur in ein Leichentuch gehüllt war, so eingekleidet? Michelangelo entscheidet sich für den nackten Jesus. Auf dem Gemälde des anonymen Maestro della Misericordia ist er bekleidet, wenn auch nicht gerade überirdisch; mit einem weißen Untergewand und einer mit Goldsaum verzierten weißen Tunika mit ebenfalls golden umrandetem blauen Umhang, vor dem Bauch gerafft. Ungewöhnlich, dass uns Christus nach seiner Auferweckung nicht wie eine weiß-golden umhüllte Lichtgestalt in Verklärungsglanz begegnet. Hier sehen wir ihn gehüllt in Stoffe und Farben dieser Welt, die an einen vornehmen Herren oder Hohepriester erinnern.
Dieser Auferweckte ist nicht im Aufstieg begriffen, er schwebt nicht, von ihm geht keine Dynamik, kein strahlendes Leuchten aus. Er steht fest auf dem Boden, mittig, zentral, und tritt barfüßig auf den Grabstein als Symbol seiner Überlegenheit über den Tod. Dieser leise Ostersieger hat zwar den Ausstieg aus dem Loch des Grabes hinter sich, zeigt sich als Sieger über die Mächte des Todes; doch an seinem Körper finden sich keine Spuren dieses Kampfessieges.
Wo sind die, denen er sich am Ostertag zeigte? Keine Engelsgestalt, keine Osterzeuginnen und -zeugen begegnen ihm; keine Gegenspieler und überwältigte Grabwächter sind zu sehen. Frontal steht er mir gegenüber. Er geht uns alle an. Nur er allein, unübersehbar, das Bild beherrschend, das Haupt von einem goldenen Scheibennimbus umgeben: Solus Christus. Er steht in der vorderen Bildebene. Wir vor ihm. Niemand steht uns im Weg. Wir können ihm nicht ausweichen. Uns wird der Auferstandene zum Gegenüber. Wir bilden ihn uns nicht ein nach Art einer mystischen Erfahrung. Uns kommt kein lächelnder oder triumphierender Christus nahe. Seltsam nachdenklich ist sein Blick. Er schaut uns Betrachter nicht an; beinahe demütig blickt er seitlich nach unten. Dieser Christus ist kein Schmerzensmann mehr, auch wenn wir die nie heilenden Narben der Wundmale an seinen Händen sehen; auch der blutige Ort der Seitenwunde (rechts!) auf dem weißen Gewand ist, mit einer goldenen Raute hervorgehoben, erkennbar - ein deutlicher Hinweis auf das durchbohrte heiligste Herz Jesu. Vor uns steht der, der den Tod hinter sich ließ, der als Lebendiger aus der Welt Gottes zu uns tritt.
Eine atemlose Kirche, die in ihren Reformversuchen angestrengt an ihrer Zukunftsgestalt arbeitet, darf zu Ostern vor dem zur Ruhe kommen, dem sie sich verdankt. Er schenkt einer vergesslichen Kirche ein „unverhofftes Wiedersehen“. Suchen wir sein Angesicht! Schauen wir nicht weg von dem, dem wir Leben, Gegenwart und Zukunft verdanken. Niemand sonst kommt näher an uns heran als Er. Seit Ostern ist er uns der Allernächste. Halten wir seine unentrinnbare Nähe, dieses Bleiben vor ihm aus! Ihn können wir nicht vereinnahmen. Ostern feiern wir ein unausdenkbares Geheimnis. Ahnen wir, dass unsere Existenz und Zukunft am seidenen Faden der Wahrheit dieses Festes hängt? Ist Christus für mich der Unverhoffte, Unvorhersehbare, Ehrfurcht Gebietende, Staunenswerte? „Unwahrscheinlicher als Jesus Christus ist nichts“, sagte der Schriftsteller Botho Strauß. Er, der Unwahrscheinlichste von der Welt, verspricht seine Anwesenheit: „Ich bin mit euch durch das All der Tage bis zum Voll-Ende der Weltzeit“ (Mt 28,20, übersetzt von Fridolin Stier). Eine Kirche, die Zukunft hat, muss Christi Gegenüber bleiben und Ihn, den Erstaunlichsten von allem, aushalten. Er bleibt mein leiser Zeitgenosse und bittet um unsere Aufmerksamkeit. Und wenn ich vor ihm stehe, dann bleibt mir nur: Erschütterung pur! Und die Hoffnung, dass er deinen und meinen Namen nennt und uns zu sich bittet. Was für eine dichte Präsenz! Welche beeindruckende Gestaltgröße dieser „Hauptperson“ des Glaubens. In solcher Nahsicht erfüllt er unser Anschauungsbedürfnis. Ostern heißt Pascha, Pasqua, Vorübergang. Seit Ostern läuft Christus frei herum durch Raum und Zeit. Er ist nicht zu halten und sprengt den Rahmen jedes Bildes. Halten wir inne vor diesem Bild: Es ist, als bliebe der Vorübergehende einen Augenblick stehen – und wir setzen uns seiner Anziehungskraft aus.
Der österliche Herr macht die Kirche zu dem, was sie ist: zur Gemeinde des Auferstandenen. Eine Kirche, die sich an Christus vorbei neu gestalten will, wäre eine fromme Nichtregierungsorganisation, ein trauriger Jesus-Gedächtnisverein. Die Christusvergessenheit in der Kirche wäre eine tödliche Krankheit des Glaubens. Ostern bilden wir uns nicht ein. Ostern können wir nicht irgendwie symbolisch verstehen, als lebe er in uns weiter, wenn wir nur brav und fromm an ihn glauben und in seinem Geiste handeln. Ohne Ihn wäre alles nichts. Er selbst bringt sich zur Erscheinung. Uns wird ein „unverhofftes Wiedersehen“ mit dem geschenkt, der auf dem Weg zum Vater ist.
„Viel mehr als Ziele braucht man vor sich, um leben zu können, ein Gesicht“, sagte der jüdische Schriftsteller Elias Canetti. Diesem lebenspendenden Antlitz Christi wollen wir begegnen.
Ihnen und Euch ein frohes Osterfest!
Kurt Josef Wecker, Pfarrer