Christus triumphiert über den Tod in seinem Tod

Kreuz-Nideggen (c) Pfarrei Nideggen
Kreuz-Nideggen
Datum:
Sa. 7. Sept. 2024
Von:
Kurt Josef Wecker, Pfarrer
Das Fest „Kreuzerhöhung“ und der „erhöhte“ Christus in der Pfarrkirche St. Johann Baptist
Betrachtung von Kurt Josef Wecker
 
„Triumphkreuz“, so nennen wir das große Kreuz, das vielleicht um 1220 entstand und nun bereits wieder nach gründlicher Restaurierung in der am 13. Oktober 2024 in der ebenfalls ‚rundumerneuerten‘  St. Johannes-Baptist-Pfarrkirche in Nideggen hängt. Es entstand im Hochmittelalter, im Übergang von der Romanik zur Gotik. Haupt, Rumpf und Beine des Christuskörpers sind Original; die Dornenkrone und die Arme wurden 1955 ergänzt, auch das wohl verlorengegangene Auflagekreuz mit den auffallenden Kreuzenden wurde erneuert. Damit ist diese hölzerne Plastik - vermutlich aus Lindenholz - aus der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts wohl das älteste und kostbarste Holzkreuz unserer GdG.
Am 14. September feiert die Kirche das Fest „Kreuzerhöhung“.
Unmerklich für die Augen der Öffentlichkeit, wurde das alte Kreuz bereits im Juli wieder – nach gründlicher Reinigung und Festigung - an einen zentralen Ort in der Pfarrkirche St. Johannes Baptist in Nideggen zurückgeführt und „erhöht“. Hoch oben hängt es an seinem angestammten Platz über dem „Triumphbogen“, dem Langhaus/ Mittelschiff zugewandt, ein wenig tiefer als vor der Restaurierung, doch immer noch – erhöht, nun unberührbar, fast den Augen entzogen, und so, dass wir unseren Kopf in den Nacken zurücklehnen müssen, um zu ihm aufzublicken. Man könnte dieses Holzkreuz fast übersehen. In isolierter Position hängt Er dort oben und ermöglicht keinen Nahkontakt. Dieses Kreuz kann auch nicht am Karfreitag verhüllt und in die liturgische Handlung einbezogen werden. Doch ER beherrscht den Raum.  Ein Triumphkreuz ist auf Entfernung angelegt, entweder wie in Nideggen oder (wie in vielen anderen Kirchen) auf einem Balken im Triumphbogen, auf einem Lettner. Unsere Blicke fallen zunächst auf die Apsis, auf das Fresko mit der „Maiestas Domini“, dem wahrhaft herrscherlich thronenden Christus, ein Gemälde, das fast eine ähnliche Entstehungszeit hat wie der Crucifixus. Das Triumphkreuz und die Maiestas Domini erinnern an die von Osten her erwartete Wiederkehr des richtenden Christus (vgl. Mt 24,30).  
Die Aufhängung des Kreuzes an einem markanten Schnittpunkt im Kirchenraum, diese hoheitliche Höhe, macht auch das Triumphale dieses Gekreuzigten aus. Ein seltsamer Triumph! In Wahrheit ist der Triumph Christi in dieser Darstellung ganz tief verborgen. Christus triumphiert über dem Tod in seinem Tod. Hoheit in der Niedrigkeit. Es gibt riesige Triumphkreuze. Christus in Überlebensgröße. Der Corpus des hiesigen Christus crucifixus ist lebensgroß: 170 cm. Manche Kirchenführer bezeichnen das Nideggener Kreuz als „romanisches Triumphkreuz“. Doch dieses Triumphkreuz nimmt eine Mittelstellung zwischen Romanik und Gotik ein, ist eher eine Darstellung des Gekreuzigten, die durch den Wandel der Frömmigkeit und des Christusbildes in der Gotik verursacht wurde, und entstand in der Phase des Hochmittelalters, als die bildende Kunst Abstand nahm vom aristokratischen Christus victor, dem Siegerchristus, dem „Rex triumphans“, dem triumphierenden Christuskönig, dem Christus coronatus, der eine Herrscherkrone trug. Viele kennen das Gerokreuz aus dem Kölner Dom (um 965), das zwar aus der romanischen Epoche stammt, aber keinen triumphierenden Christuskönig zeigt. Dem zu Tode erschöpften „Christus patiens“ des Nideggener Kreuzes mit seinen drastisch dargestellten Wunden sieht man das gewaltsame Sterben an. Der leidende Erlöser und Schmerzensmann hat ausgelitten. Die durch den Lanzenstich nach dem Tod Jesu verursachte Seitenwunde ist überdeutlich erkennbar; Jesu Blut quillt hervor. Die Augen des Herrn sind zwar halb geöffnet, doch der Blick ist gebrochen: Christus im Augenblick seines Dahinscheidens. Der Kopf des Gekreuzigten ist ein wenig nach rechts geneigt. Blutspuren finden sich auf der Stirn. Der Mund ist nach dem Aushauchen des Lebens leicht geöffnet. Wir erkennen aus der Nähe die Rippenzüge, Jesu ovales, bärtiges Gesicht, die Nägel in den offenen Handtellern mit den stark blutenden Wunden, die auf den Schultern aufliegenden längeren Haare. Dieser Christuskönig trägt keine Königskrone, sondern eine (nach der Restaurierung behutsam kolorierte) Dornenkrone; sie ist Christus tief aufs Haupt gedrückt. Die Passionsreliquie der Dornenkrone wurde damals sehr verehrt und findet sich gehäuft ab 1220 auf den Kreuzigungsdarstellungen. 1239 erwarb König Ludwig IX. von Frankreich diese Reliquie in Konstantinopel. Jesus auf dem Kreuz in Nideggen  trägt kein hohepriesterliches Gewand, keine Tunika (wie auf vielen romanischen Darstellungen), sondern einen bis zu den Knien reichenden, in königlichem Rot gehaltenen, blau gesäumten Lendenschurz, der rockartig bis zu seinen Knien reicht, gestaltet mit kunstvoll geschnitzten Quer- und Längsfalten. Der schlanke Corpus hängt frontal gestreckt und nicht gekrümmt am Kreuz. Die Darstellung der Schmerzen dieses Christus dolorosus/ Christus patiens ist zurückhaltend. Unsere räumliche Distanz zu diesem Holzkruzifix erschwert das Mitleiden, die ‚compassio‘ - die Aufforderung zu meinem Mitleid klingt eher verhalten an. Die erlittene Passion wird nicht dramatisch zur Schau gestellt. Jesu Füße stehen nicht – wie bei den romanischen Kreuzen - parallel nebeneinander auf einem Suppedaneum; im romanischen „Viernageltyp“ werden die Füße mit zwei Nägeln am Kreuzbalken festgenagelt. Die Füße des Christuscorpus von Nideggen werden nicht gestützt durch ein Fußbrett, sondern sind übereinandergelegt; mit einem einzigen Nagel sind sie an den Kreuzbalken geschlagen („Dreinageltyp“). Solch eine Wiedergabe des Kreuzigungsvorgangs steigert die Schilderung des Leidens Christi, ist wohl historisch zutreffend und wird auch vom Christusnegativabdruck auf dem Turiner Grabtuch bezeugt. Wir kennen nicht das Aussehen des ursprünglichen Nideggener Kreuzbalkens. War er kostbar geschmückt (crux gemmato) oder einem Lebensbaum nachempfunden (Lignum vitae)?  Doch der Leib Jesu ‚braucht‘ das Auflagekreuz; er hängt am Balken, er steht nicht souverän, er schwebt nicht majestätisch quasi vor dem Balken.
 
Nur wenige konnten diesen nun wieder so unerreichbar „erhöhten“ Christus im Atelier der Restauratorin und bei der erneuten Aufhängung aus der Nähe betrachten und auf die edlen Gesichtszüge und in die - nun weit entrückte - klaffende Seitenwunde Jesu hineinblicken. Wer sich dem Christusleib aus der Nähe ausgesetzt hat, wurde durch die expressive Gestalt und die Details des Corpus erschüttert. Nur aus der Nähe fallen die Rotzeichnung der Lippen, die Lidränder, die Augenbrauenbögen, die Blutmale auf. Dankbar sind wir, dass wir dieses Kreuz so gut restauriert wiedererhalten haben. Doch sehen wir darin mehr als ein wunderbar konserviertes ‚Kunstdenkmal‘! Christi Opfertod strahlt aus. Gekreuzigte Liebe! Man spürt die suggestive Präsenz des Gekreuzigten. Sein brechender Blick sucht mich. „Die „Stunde“ (Joh 7,30) des Heils hat geschlagen. Wir werden gefühlsmäßig mitgenommen, das Leiden Christi nachzuempfinden. Das lateinische Original des Passionsliedes „O Haupt voll Blut und Wunden …!“ („Salve cruentatum“) entstand ungefähr zur Entstehungszeit dieses Crucifixus. Jesus, wo sind die Zeichen deines Sieges? Wir halten das ‚Hängen Christi‘ über uns aus. Was für eine Kreuzerhöhung! Die Gottesdienstgemeinde steht unten im Kirchenschiff, wie damals Maria, Johannes und das gaffende, betroffene oder an der Kreuzigung mitwirkende Volk. Die Gemeinde findet sich im Kirchenschiff wie auf dem „volkreichen Kalvarienhügel“ ein, und wir feiern auf dem Altar das Geheimnis von Golgotha.
Wie die Frauen am Karfreitag blicken wir aus der Ferne auf Ihn, rufen aus der Tiefe zu Ihm. Was für ein Anblick: Der tote Christus am Kreuz! Im tödlich verletzten Menschen aus Fleisch und Blut will Gott mir begegnen.
Ist der Corpus Christi zum Mitansehen? Vielleicht halten wir lieber Distanz zum Kreuz. Es ist kein schönes Zeichen für ungebrochene Ganzheit, Vitalität und schnelles Glück. Der Karfreitag ist keine Etappe der Heilsgeschichte, die ja eigentlich durch Ostern hinter uns liegt. Wir müssen die permanente Präsenz des Gekreuzigten über uns aushalten und sind „Gäste des Gekreuzigten“ (Ernst Käsemann). Ohne dieses Kreuzzeichen fehlte der Freude des Glaubens der letzte Ernst. Wir müssen uns das Wort vom Kreuz anhören und den Corpus crucifixus anschauen. Erhebt euer Haupt! Sucht ihn, blickt nicht weg! So viel hat Gott unsere Erlösung ‚gekostet‘. Wir brauchen Karfreitag und Kreuzerhöhung und solche Glaubenszeugnisse, damit wir nicht vergessen, auf welche Welt sich der Menschgewordene erlösend eingelassen hat.
Schau her! So heißt es in vielen Passionsliedern. Schaut hoch! Kommt und seht!
Einen guten Spätsommer im Schatten des Kreuzes wünscht
Ihr/ Euer
Kurt Josef Wecker, Pfarrer