Nicht „alle Jahre wieder“, sondern nur „alle Jubeljahre“ gibt es ein vom Papst ausgerufenes „Heiliges Jahr“. Ja, ein heiliges Jahr „kommt nur alle Jubeljahre vor“; ein seltenes Ereignis, das wir in unserem Leben zwei-, höchstens dreimal erleben können und welches der Kirchengeschichte einen eigentümlichen Rhythmus und eine verlässliche Periodizität gibt. Angesichts eines solchen besonderen Jahres spüren wir, dass die Zeit etwas kostbares, ja etwas Heiliges ist, dass sie Höhepunkte und Wendepunkte und Übergänge kennt. Die Juden haben den Sabbat, wir Christen den Sonntag, die Kirchenfest und eben - das Heilige Jahr. Mit seiner - durch die Verkündigungsbulle „Spes non confundit“ (vgl. Röm 5,5) am Fest Christi Himmelfahrt 2024 ergangenen - Einladung machte Papst Franziskus eine Zeitansage: „Die Hoffnung enttäuscht nicht!“. Damit ruft er erneut ein ‚Gnadenjahr’ (Lk 4,18) aus: ‚Jetzt sind Tage des Heils‘ (2 Kor 6,2). ‚Jetzt ist die Zeit und die Stunde‘ zur Umkehr.
Jedes Heilige Jahr hat ein bestimmtes Motto und konzentriert uns auf ein bestimmtes Thema, diesmal die göttliche Tugend der Hoffnung. Das kommende Jahr steht unter dem schönen Leitwort „Pilger der Hoffnung“ (Peregrinantes in spem).
Der Papst lädt uns nach Rom ein, damit wir tastend und bittend durch offene Pforten treten, im kurzen Verharren auf der Schwelle innehalten und im Durchschreiten dieser Öffnungen symbolisch einen neuen Anfang vor Gott wagen. Das Durchqueren der Heiligen Türen ist Ausdruck eines Glaubensbekenntnisses. Ein solches Jahr ist wie ein Kairos, um den eigenen Glaube zu vertiefen und eine ‚vorbereitete Umgebung‘ zur Gewissenserforschung zu nutzen. „Lasst euch mit Gott versöhnen!“ Gott bittet in Christus um meine Umkehr, meine Erneuerung, mein geistliches Wachstum. Eine so geprägte Zeit motiviert zur Solidarität mit den Notleidenden und verwandelt uns im Gehen und Ankommen vielleicht zu „Pilgern der Hoffnung“. Denn wer zu einer Pilgerfahrt aufbricht, will, dass nicht alles beim Alten bleibt. Die Begegnung mit dieser Stadt und ihren qualifizierten Stätten will mich ‚transformieren‘, will ‚etwas mit mir machen‘, will uns zu Stellvertretern und Fürbittern derer machen, denen das Pilgern nichts mehr sagt und die ihre Glaubenshoffnung verloren haben. „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.“ (Walter Benjamin)
Wie alles anfing
Am Abend des 24.12. 2024 wird Papst Franziskus mit der symbolischen Geste der Öffnung der ersten Heiligen Pforte das Heilige Jahr eröffnen.
2025 ist das 27. ‚ordentliche‘ Heilige Jahr der Kirchengeschichte, seit vor 725 Jahren im Jahre 1300 Papst Bonifaz VIII. (1294-1303) Gespür für ‚Glaubens-Marketing‘ und ‚religiöse Performance‘ bewies. Diese Jahrhundertwende, das Centenarjahr 1300, wurde als markante Zeitmarke wahrgenommen. Die Bulle Bonifaz‘ (Antiquorum habet fidem“) datiert auf den 17.2.1300, erlassen beim Lateran, dem damaligen Wohnpalast der Päpste. Zwar gab es bereits zuvor lokale Heilige Jahre (in Santiago de Compostela 1126, Bamberg 1189, Canterbury anlässlich der Translatio von Thomas Becket 1220), doch ein solches Jubeljahr in Rom trug von vornherein einen petrinischen Akzent und sollte zeugen vom wachsenden Ansehen des Papstes als des Nachfolgers Petri und dem damals bereits anachronistischen Versuch einer nicht unproblematischen, herrschlustigen Papst-Persönlichkeit, die geistig-politische Vorrangstellung des Papsttums zur Geltung zu bringen. Der ‚Konkurrenzdruck‘ der drei Hauptpilgerorte Jerusalem, Santiago de Compostela und Rom, zu denen die „peregrinationes maiores“, die Hauptwallfahrten gingen, ist bei der Ausrufung der Heiligen Jahre mitzuberücksichtigen. Im Umfeld der Jahrhundertwende verdichteten sich endzeitliche Heilserwartungen. Ein ungeheures Bedürfnis nach Sühne, Buße und Umkehr lag in der Luft - und eine große Hoffnung der Pilger auf Verzeihung, den „gran perdono“. Bonifaz setzte sich zeitlich verzögert als Promotor an die Spitze der Massenbewegung und steigerte sein Ansehen als Papst und verhalf Rom und v.a. den beiden Apostelbasiliken zu beträchtlichen Einkünften. Um den Anspruch des Nachfolgers Petri auf die ganze Machtfülle hervorzuheben, wurde diese Bulle „Antiquorum habet fida relatio“ von Bonifaz VIII. erneut am Fest der Cathedra Petri, dem 22.2.1300, promulgiert und das besondere Jubiläumsjahr ausgerufen. Das fromme Volk Gottes drängte Bonifaz VIII. quasi zu diesem Aufruf und einer nachträglichen apostolischen Bestätigung, denn viele Pilger strömten zur Jahrhundertwende in die Ewige Stadt und suchten das „Jubiläum“, das religiöse Erlebnis; sie wollten das ‚wahre Abbild‘ Christi, also die ‚vera icon‘, das Veronika-Schweißtuch sehen. Das anonyme Gerücht vom in Rom in diesem Jahr gewährten Sündenablass lag in der Luft. Der Papst lenkte diese Erwartung in Bahnen und gewährte unter bestimmten Bedingungen (reumütige Beichte, mehrfacher Besuch der beiden Apostelgräber in ihren Basiliken: Römer dreißigmaliger Besuch; Auswertige aufgrund der langen Anreise nur fünfzehnmaliges Aufsuchen der Apostelgräber) einen ‚vollkommenen Ablass‘, einen Plenarablass ihrer (zeitlichen) Sündenstrafen. Bußerleichterungen, Bußermäßigungen und Bußerlasse wurden zugesichert. Der Ausbau des Ablasswesens schritt im 12. Jahrhundert voran; Kreuzzugsablässe wurden gewährt. Das Gerücht von einer solchen in Rom 1300 zu gewinnenden Amnestie, der vermeintlich ‚billigen Gnade‘, der im Vorbeigehen zu gewinnenden Vergebung der Sünden und dem Erlass der Sündenstrafen, quasi also von einer Selbstabsolution, machte die Runde. Prominenter Pilger im Jahre 1300 war Italiens größter Dichter Dante, damals 35 Jahre al, also in der ‚Mitte‘ seines Lebens stehend; er spielte in der ‚Vita nuovo‘ (Kap 41) und in der ‘Göttlichen Komödie‘ (Inferno 18,29) auf den „Anno del Giubbileo“ an und ließ seinen fiktiven Gang durch die Unterwelt und das Fegefeuer zum Paradies in der Osterwoche des Jubiläumsjahres 1300 beginnen. Sein Gegner war Papst Bonifaz VIII, über dessen Geldgier und weltlichen Herrschaftsanspruch Dante das Verdammungsurteil sprach (vgl. Paradiso 17,51 und 27,22ff). Dante machte keinen Hehl aus seiner Distanz zu den fragwürdigen Begleiterscheinungen des Pilgerwesens und setzte einem ‚vulgären‘, veräußerlichten Pilgergedanken sein Ideal gegenüber: Wahre Pilgerschaft ist der geistliche Weg des Erdenbürgers zum himmlischen Jerusalem. Das mittelalterliche Sprichwort lautet: „Wer viel pilgert, wird selten heilig.“ Der gewaltige ‚Concursus‘ der ‚Romei‘, der Rompilger, forderte die Organisationskraft des Papstes heraus. Solche tiefe religiöse Erregung des nach Rom strömenden Volkes musste in gewisse Bahnen gelenkt werden. Bonifaz VIII., der sich damals auf dem Höhepunkt seiner Macht befand und kurz darauf im Konflikt mit der französischen Krone gedemütigt wurde, und seine Kurie waren also nicht die alleinigen ‚Erfinder‘ des Heiligen Jahres; eher geriet der Papst unter Zugzwang, reagierte und gab der Massenbewegung nachträglich und rückwirkend seinen Segen. Es gelang ihm, die Pilgermassen gezielt und etwas geordneter nach Rom zu lenken. Bei der Einführung dieses besonderen ‚Jahres des Herrn‘ im Jahre 1300 verband sich die Tradition eines besonderen gottgeweihten Jahres (Lev 25,10) mit dem Gedanken eines spirituellen ‚Erlassjahres‘, der Streichung der Sündenschuld statt der Geldschuld; es ging um die Sündenvergebung, den Ablass (indulgentia), den ‚Perdono‘. Das erste Jubeljahr war also quasi ein ‚Selbstläufer‘; auch ohne offizielle Einladung kamen mehr oder weniger bußwillige Pilger zur Jahrhundertwende in die Stadt, die damals vielerorts in Ruinen lag und zugleich vielen immer noch als der Nabel der Welt galt. Die ‚Rom-Idee‘ war stark, jedoch der Weg nach Rom war für viele Pilger lebensgefährlich, für manche eine Reise ohne Wiederkehr. Kein Weg war den Wallfahrern zu beschwerlich, um einen Jubiläumsablass zu ‚gewinnen‘, die in Rom in Aussicht gestellten Benefizien zu empfangen und große geistliche Gnaden zu erlangen. Damals gab es noch keine Heilige Pforte, noch nicht das ausdrucksstarke Ritual der Öffnung und der symbolischen Durchschreitung eines „Tores der Gerechtigkeit“ (Ps.118,19).
Im rechten Seitenschiff der fünfschiffigen Lateranbasilika findet man das Fragment eines wohl von Giotto gemalten Freskos; wir sehen eine Momentaufnahme, die Bonifaz VIII. zwischen zwei Klerikern zeigt, von denen einer die Ausrufungsbulle des ersten Jubeljahres 1300 hält. Der an seiner Mitra als Papst Identifizierbare spendet den Segen von der Loggia des Laterans aus. Dieses Jahr der Jahrhundertwende war für den Papst nur ein „Augenblickserfolg“ (Arnold Angenendt), für die Aufbesserung der päpstlichen Kassen hingegen erfolgreich und zur Linderung der kirchlichen Finanznot hilfreich und ‚ertragreich‘; solch eine Innovation rief nach Wiederholungen.
Ein Jubelfest ruft nach (bislang 27-maliger) Wiederholung
Geplant war zunächst, dieses Jubeljahr nur alle 100 Jahre stattfinden zu lassen. Eine römische Gesandtschaft verlangte 1342 vom Papst, der damals in Avignon residierte, ein Heiliges Jahr im Jahre 1350. Denn die Kurie als Auftraggeber fehlte 1350 in Rom. Clemens V. erlaubte dies im Jahre 1343 mit der Bulle „Unigenitus“. Dieser in Südfrankreich residierende Papst kam also den Römern entgegen und verkürzte den Zentenar-Rhythmus von 100 Jahren auf 50 Jahre „wegen der Kürze des menschlichen Lebens“, passte sich also an das Zeitmaß des jüdischen Jobeljahres an, auch unter Bezugnahme auf die Zahlenanalogie der 50 Tage der Erscheinungen Jesu zwischen Ostern und Pfingsten. 1350 fand ein solches Jahr - bereits im Schatten einer Pestepidemie - statt; damals war neben der hl. Birgitta von Schweden der Dichter Petrarca ein prominenter Pilger. Verlangt wurde nun auch von den Pilgern, neben den Apostelbasiliken die Laterankirche zu besuchen. In der Zeit des großen abendländischen Schismas entschied man sich für 33 Jahre Abstand zwischen den Jubeljahren. Papst Urban VI. orientierte sich in seiner Bulle „Salvator noster“ 1389 - auch wegen der Kürze des Menschenlebens - am Lebensalter Jesu und fügte nun Santa Maria Maggiore als von den Pilgern zu besuchende Kirche hinzu. 1470/71 legten Papst Paul II und Papst Sixtus IV endgültig den 25 Jahre-Rhythmus fest. Nun wurde die das Privilegium einer Gewinnung des Jubiläumsablasses im „annus remissionis“ auch den ablasssuchenden Christen gewährt, die nicht nach Rom kommen können. Diese Ausdehnung und Übertragbarkeit des Jubelablasses geschahen wohl 1350 zunächst für die Bewohner von Mallorca. Ihnen wurde ein ‚Ersatz‘ für die ‚Romfahrt‘ ermöglicht, um den Jubliläumsablass in ihren Heimatdiözesen zu erlangen. Ihnen wurde auferlegt, bestimmte, von den Bischöfen dazu gewählte Kirchen in ihrer Heimat zu besuchen, zu fasten und eine Geldspende zu entrichten, die sich an den Romreisekosten zu orientieren hatte und die teilweise nach Rom für Bau- und Restaurierungsmaßnahmen an den Hauptkirchen abgeführt werden musste. Sogenannte „ad-instar-jubilaei“-Ablässe wurden anlässlich vieler Heiliger Jahre gewährt für die, die also quasi zu Hause eine „Pilgerfahrt im Geiste“ machen wollten. Stets galt also beides: Der Papst teilt die Ablässe aus dem „thesaurus ecclesiae“, den Gnadenschatz, aus und zugleich vermehrte er den pekuniären „Kirchenschatz“.
Heilige Jahre waren Ausdruck wachsender Petrusverehrung. Die Päpste luden ein und appellierten alle Stände des „populus christianus“ zum Besuch „ad limina apostolorum“, zur Bußwallfahrt, zum Pilgerweg an die Schwellen und Gräber der Apostel Petrus und Paulus, zur andächtigen Betrachtung des ‚Schweißtuchs der Veronika‘ (vera icon, Volto Santo), der Kreuzfragmente in Santa Croce und anderer nicht immer zugänglicher Reliquien, in späteren Jahrhunderten zum betenden Besteigen der Heiligen Stiege, zum Besuch der Katakomben und anderer wichtiger Kirchen Roms. Die Ewige Stadt wucherte mit ihren wie auf einer Theaterbühne präsentierten Schönheiten und reizte mit dem ihr eigenen Genius loci. Da nur Päpste Heilige Jahre ausrufen und Heilige Pforten eröffnen können, wurden diese Jubeljahre in Zeiten einer Sedisvakanz erst nach einer erneuten Papstwahl im Februar eröffnet, so 1550 und 1775. Wegen der Tiber-Überschwemmung an St. Paul vor den Mauern wurde deshalb 1624 in S. Maria in Trastevere eine Heilige Pforte geöffnet, ähnlich im Jahre 1700 und auch 1825 nach der Zerstörung von St. Paul vor den Mauern durch einen verheerenden Brand im Jahre 1823. Nur selten fielen Heilige Jahre aus. Dies geschah im Jahre 1800 in der napoleonischen Zeit wegen des Todes des Papstes Pius VI. und der Verschleppung seines Nachfolgers nach Frankreich, 1850 wegen der Errichtung der römischen Republik und der Flucht von Papst Pius IX. aus Rom nach Gaeta im Königreich Neapel - und 1875, wegen der Annexion des Kirchenstaates und dem angespannten Verhältnis des Vatikans zum jungen italienischen Staat.
Das alttestamentliche Jobeljahr als Modell
Das ‚fromme Begehren‘ des Volkes Gottes verlangte also nach einem solchen ‚gnadenreichen Jahr‘ und hatte die alttestamentliche Tradition auf seiner Seite. Das Jobeljahr (die Vulgata übersetzt annus iubilaeus) soll ein Jubeljahr sein. Mit einem „Jobel“, also dem Hall eines Widderhorns, eines ‚Schofar‘ genannten Blasinstrumentes (Jos 6,5; Ex 19,13, eröffneten die Juden nach 7 x 7 Jahren das 50. Jahr (Leviticus 25,8-55, v.a. V.10; 27,16-25). Das 50. Jahr, das Erlassjahr (schenat ha-jobel) sollte für das Volk Israel das ‚Freijahr‘ eines neuen Anfangs, der Wiederherstellung gerechter Besitzverhältnisse, der Rückerstattung von veräußertem Besitzes, der Freilassung der jüdischen Sklaven, der Erholung des bewirtschafteten Erdbodens sein. Es ging um die die erneute Schaffung gottgewollter gerechter Verhältnisse, um Schuldentilgung und vor allem um das Bekenntnis, dass Gott der Herr der Welt und der Eigentümer des Landes ist. Dieses Jahr trug nach jüdischem Verständnis einen sozialen und theozentrischen Akzent: Nach 50 Jahren soll alles wieder in die Ursprungssituation zurückkehren. Papst Franziskus greift diesen Gedanken auf, wenn er am 26.12.2024 eine fünfte Heilige Pforte im römischen Gefängnis Rebibbia eröffnen wird: „Ich bin gekommen, den Gefangenen die Entlassung zu verkünden und den Gefesselten die Befreiung“ “ (Jes 61,1). Wir wissen nicht, ob und welche realen Folgen dieser Appell der Streichung von Geldschulden im jüdischen Alltagsleben hatte. Unser Wort ‚Jubiläum“ leitet sich ab von diesem Wort ‚Jobel‘, dem Schall des Widderhorns der Juden zur Ankündigung dieser Freudenzeit; jubilus und jubilare flossen zusammen es verbindet sich mit dem Freudenjubel, dem „Jauchzen“ (Luther), dem „Juhu“ (iubilium) des freudig erregten Volkes.
Heilige Jahre -Antwort auf die Sehnsucht nach „Perdono“, nach Vergebung
Nicht erst seit 1300 wurde die Romfahrt für Pilger attraktiv. Der Dreiklang Wallfahrt-Buße-Ablass, die Sorge um das persönliche Seelenheil und das Streben, das Heilige zu sehen und zu ertasten, machte dem Glauben des mittelalterlichen Menschen Beine. Da nicht jeder Christ Kreuzritter werden konnte und die Heilige Stadt Jerusalem durch den Sarazenen-Einfall für Wallfahrer fast unerreichbar wurde, rückte die Stadt der Apostel als ‚heilige Stadt‘ auf. Das ‚Ersatzziel‘ wurde zum Sehnsuchtsziel der Pilger. Der durchaus sozialkritische Hintergrund des jüdischen Jobeljahres wurde in der Gestalt des Heiligen Jahres eher vergeistigt. Ein Magnet für Wallfahrer war der bei Heiligen Jahren in Aussicht gestellte Sündenablass, der damals die ‚Hauptattraktion‘ war und viele um ihr Seelenheil besorgte Pilger und Büßer anlockte. Die Erwartungshaltung vieler weitgereister Wallfahrer war hoch, die Kunde von der in Rom lockenden fassbaren „nahen Gnade“ (Berndt Hamm) machte Menschen mobil. Die Fernpilger eilten mit sog. Indulgenzlisten durch die Stadt und bemühten sich, an den heiligen Stätten ihr Tagespensum zu schaffen und Ablässe zu erwerben. Bereits Bonifaz VII. machte differenzierte Vorgaben: Den Römern verlangten die Päpste einen dreißigmaligen Besuch der Apostelgräber ab. Auswärtige Pilger diesseits der Alpen blieben etwa 15 Tage in Rom und pendelten zwischen dem Petrus- und Paulusgrab hin und her. In manchen Heiligen Jahren wurde von Pilgern von jenseits der Alpen ‚nur‘ ein achtmaliger Besuch der Gräber Petri und Pauli erwartet. Für viele Fernpilger war diese Romfahrt ein riskantes und oft lebensgefährliches Abenteuer. Diebe und Verbrecher trieben sich auf den Straßen Roms herum; die Versorgungslage in der überfüllten Stadt war oft prekär. Auch Prominente statteten der Stadt in Jubeljahren Besuche ab und verrichteten ihre Andachtsübungen. Die Stadt waren überfüllt, Krankheiten breiteten sich aus. Oft waren es Bruderschaften (v.a. die Erzbruderschaft der Hl. Dreifaltigkeit), die sich um die Lebensmittelversorgung, Unterbringung und die Krankenpflege der Pilger in den Hospizen kümmerten. Das Gedränge im Gassengewirr von Rom, das um 1300 kaum 30 000 Einwohner zählte, muss gewaltig und an Verkehrsengpässen wie der Aeliusbrücke (Hadriansbrücke), also der späteren Engelsbrücke, oder bei den Massenaufläufen vor den Heiligtümern lebensgefährlich gewesen sein. Dante war wohl Augenzeuge dieses ersten Heiligen Jahres und erzählte vom lebensgefährlichen Gedränge auf dieser Tiberbrücke (Inferno 18,25. 28ff); im Jahre 1450 kam es auf dieser engen Tiberbrücke im Menschengedränge zu einer Katastrophe; über 130 Pilger wurden dabei getötet.
Rom versetzte Menschen in geistliche Unruhe und lockte in Heiligen Jahren mit einer außergewöhnlichen ‚spirituellen Vergünstigung‘, dem „Perdono“, mit Indulgenzen. Immer ging es jedoch auch um Handfestes. Ein Heiliges Jahr hatte stets auch (besonders 1450) eine ökonomische Auswirkung auf die Stadt, war ein gewaltiger Beitrag zur Wirtschaftsförderung, kurbelte die dortige Konjunktur an und wurde im späten Mittelalter zum Anlass genommen, die teilweise unwürdigen ruinösen Zustände in dieser Stadt zu beseitigen. Heilige Jahre gaben den Päpsten immer Gelegenheit, ihren eigenen Machtanspruch und das Bild einer ‚triumphierenden Kirche‘ in Architektur und Zeremonien und unter dem Einsatz suggestiver und affektiver Zeichen zu repräsentieren. Unter Sixtus V. wurde 1475 die Ponte Sisto gebaut, es wurden schnurgerade Straßen durch die Altstadt nach St. Peter hin geschlagen und ein ausgeklügeltes Straßennetz geschaffen zur Bewältigung der Pilgerströme. Alexander VI. ließ die ‚Via Alessandrina‘ zwischen Engelsburg und dem Vatikan bauen, den heutigen „Borgo nuovo“. Unter Papst Gregor XIII wurde 1573 für das Heilige Jahr 1575 die Via Merulana zwischen Santa Maria Maggiore und dem Lateran gebaut. Baufällige Basiliken wurden restauriert. Anlässlich des Heiligen Jahres 1750 wurde die ‚Spanische Treppe‘ gebaut. Im Blick auf das Heilige Jahr 2025 gab es ein spektakuläres Tunnelprojekt am Ende der Via della Conciliazione (die wiederum erst zum Heiligen Jahr 1950 vollendet war) an der Piazza Pia, um den Autoverkehr durch diesen Tunnel zu leiten und den Pilgern eine verkehrsberuhigte Zone auf ihrem Weg von der Engelsburg zum Petersplatz zu bieten.
Außerordentliche Heilige Jahre
Papst Pius IX. 1933 und Papst Johannes Paul II. 1983 haben bereits „außerordentliche“ Heilige Jahre ausgerufen, die an die 1900. und 1950. Wiederkehr des ‚Jahres der Erlösung‘ erinnerten. Zugleich geriet das Heilige Jahr (vom 2. April 1933 bis zum 1. April 1934) nach den ‚Lateranverträgen‘ von 1929 zu einer Art Versöhnungsfeier zwischen dem Vatikan und der faschistischen Regierung Italiens. Papst Franziskus hatte 2016 ein „außerordentliches Heiliges Jahr der Barmherzigkeit“ ausgerufen. Anders als 2025 erlaubte er 2016 den Bischöfen der Weltkirche, in ihren Diözesen eigene Heilige Pforten in überregional bedeutsamen Kirchen zu bestimmen.
Die Öffnung Heiliger Pforten als eine suggestive Geste
Die erste heilige Pforte (Porta santa) wird Papst Franziskus zur Zeit der Vesper am Heiligen Abend, dem 24.12.2024, im Petersdom in Rom öffnen. Nach römischem Denken begann das neue Jahr am Weihnachtsfest. Ausgerechnet der berüchtigte Borgiapapst Alexander VI. hat diesen Ritus der ‚Apertura della Porta‘ vor der Feier der ersten Vesper zur Weihnacht 1499 an St. Peter zur Eröffnung des 8. Heiligen Jahres eingeführt. Er wählte diese Zeremonie auch als sinnenträchtiges Zeichen für die päpstliche Schlüsselgewalt (vgl. Jes 22,22). Er öffnete die ‚goldene Pforte‘ (Porta aurea), die durch eine Mauer verschlossen war. Man berief sich auf eine mündliche Überlieferung, die von der Tradition einer alle hundert Jahre vorgenommenen Zeremonie der Pfortenöffnung sprach. Der fromme Einsatz dieses Borgiapapstes für das von ihm städtebaulich durchdachte und zugleich ‚erlebnisorientierte‘ Heilige Jahr und die darin angebotenen Reliquienschauen ist bemerkenswert, zumal sein skandalträchtiges Pontifikat von Mythen umgeben ist. Bei der Schließung der Heiligen Pforte (Epiphanie 1501) fehlte der Papst allerdings. Bis heute wird die Liturgie der Eröffnung eines Hl. Jahres von den im Jahre 1500 allererst gewählten Ritualen und den drei zeremoniellen Hammerschlägen geprägt. Inspiriert wurde die päpstliche Innovation der rituellen Öffnung vierer Heiliger Pforten durch seinen Kämmerer und Zeremonienmeister Johann Burckardus (1450-1506) aus Straßburg (italienisch Argentinen), dessen tagebuchartigen Aufzeichnungen wir viele Details verdanken und der vielleicht dem Papst auch die Anregung gab, die ‚Goldene Pforte‘ - umrahmt von Antiphonenversen, Psalmengesang (Ps 118,19f; Ps 51) und einem päpstlichen Gebet - zu öffnen. Bis heute erhalten ist das Wohnhaus des Zeremonienmeisters, der „Palazzetto del Burcardo“ mit der „Torre Argentina“ nahe des nach diesem elsässischen Liturgen benannten ‚Largo Argentina‘ in Roms Innenstadt in der Via del Sudario 44. Papst Alexander VI. schlug noch mit einem einfachen Maurerhammer die Türvermauerung ein. Seit 1524 ist dieser Hammer golden, später silbern. Wie Mose in der Wüste mit seinem Stab auf den Felsen schlägt und ihm Wasser für das durstige Volk Israel entlockt (Ex 17,6, Num 20.11), so ermöglicht der Papst durch die Öffnung der Heiligen Pforte mit der Hammerpicke dem neuen Volk Gottes einen „außerordentlichen“ Weg der Erlösung (vgl. Ps 78,15f). Der Borgiapapst zog mit dieser Zeichenhandlung die Grabeskirche des hl. Petrus der ‚Porta aurea‘ am Lateran vor. 2024 wurde am 9. November das Fest der Weihe der von Kaiser Konstantin dem Papst geschenkten Salvatorbasilika vor 1700 Jahren gefeiert. In der Lateranbasilika muss es wohl bereits beim nächsten Mal 1350 (oder 1390?) eine Heilige Pforte, eine ‚Goldene Pforte‘ gegeben haben, da in einem Dokument aus dem Jahre 1400 von der Öffnung der Pforte der Lateranbasilika die Rede ist. Nach der Beschreibung eines gewissen Giovanni Ruccellai aus Viterbo aus dem Jahre 1450 habe Papst Martin V. 1423 zum ersten Mal in der Geschichte des Jubeljahres die Heilige Pforte geöffnet. Die auch S. Giovanni in Laterano genannte „Haupt- und Mutterkirche“ aller Kirchen Roms und der Welt konnte nach dem Aufenthalt der Päpste in Avignon und dem Wohnortwechsel der Päpste hin zum Vatikanhügel ihre frühere Stellung nicht mehr wiedergewinnen. Im Jahre 1500 stand an der Hl. Pforte an St. Peter eine berüchtigte Spendentruhe aus Eichenholz, in die hinein die Pilger ihre Ablassspende, ihren ‚obolus‘ vor allem für den Neubau von St. Peter und auch zur Finanzierung des ‚Türkenkreuzzuges‘ einwerfen konnten; der Eindruck konnte entstehen, der Pilger könne sich mit diesem sehr ‚gegenständlichen‘ Opfer den Jubiläumsablass kaufen und ‚Eintritt zahlen‘ in das Heiligtum. In Erinnerung kommt der Spottvers: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegfeuer springt.“ 17 Jahre nach diesem Hl. Jahr kam es zum Thesenanschlag Luthers in Wittenberg. Er kämpfte in seinen Tischreden gegen die Gewinnsucht der Päpste. Im folgenden Hl. Jahr 1525, das aufgrund der durch die beginnende Reformation ein Krisenjahr war und nur wenige Pilger anzog, war diese fragwürdige ‚Spendenbox‘, auch angesichts der vom ‚Ablassskandal‘ losgelösten Reformationsereignisse im fernen Deutschland, verschwunden. 1557 kam es zu tumultartigen Situationen beim Öffnen der Hl. Pforte an St. Peter durch Papst Gregor XIII.; der Hammer zerbrach beim Schlagen auf die Ziegel-Blendwand; jeder ‚fromme‘ Schaulustige wollte nicht nur Trümmerreste der Mauer, sondern auch Geldmünzen und Medaillen ergattern, die bei den Schlussfeierlichkeiten des Hl. Jahres 25 Jahre zuvor in die Mauer verbaut worden waren. Die Herausgabe von Gedenkmünzen und Medaillen gehörte bald zur Tradition Heiliger Jahre.
Seit 1500 also gibt es dieses Türritual, ohne dass wir uns das Hl. Jahr nicht mehr vorstellen können. Der Papst vollzieht einen dreifachen Hammerschlag und spricht: „Aperite mihi portas iustitiae“. „Tut mir auf die Tore der Gerechtigkeit. Eintreten will ich in Dein Haus, o Herr. Öffnet die Tore, denn Gott ist mit mir.“ Dann öffnet sich die linke Seiteneingangstür von St. Peter (also nahe der 1499 noch in der alten Basilika aufgestellten Pietà des Michelangelo) bzw. wird zurückgerollt. Die jetzige hl. Pforte im Petersdom hat vom Bistum Basel 1950 gestiftete Bronzeflügel – eine Reverenz an Papst Pius XII. und ein Dank dafür, dass die Schweiz im Krieg verschont wurde. Am linken, offenstehenden Türflügel ist dem Pilger in Augenhöhe die Berührung des Kreuzes möglich. Am Stephanustag, dem 26.12.2024, wird der Papst ‚außer der Reihe‘ eine weitere Heilige Pforte im römischen Gefängnis Rebibbia öffnen. Die Öffnung dreier weiterer heiliger Pforten durch den Papst (in manchen Jahren auch durch Kardinallegaten) in den Patriarchalbasiliken werden folgen, am 29.12.2024 in der Lateranbasilika, am 1.1.2025, dem Oktavtag von Weihnachten, in der römischen ‚Weihnachtskirche‘ Santa Maria Maggiore und am 5.1.2025 in Sankt Paul vor den Mauern. Der Januar trägt den Namen des römischen Gottes Ianus, des Gottes der Ein- und Ausgänge (lat. ianua = die Tür). Im Lateran ist die Hl. Pforte eine unter Papst Johannes Paul II. im Jahre 2000 vom Bildhauer Floriano Bodini geschaffene Tür. Auch die Tradition mit der Öffnung von vier Heiligen Pforten hat der Borgiapapst im Jahre 1500 begründet. Bemerkenswert ist, dass die „heiligen Pforten“ nie die Hauptportale der Basilika sind, sondern jeweils eine Nebenpforte. So prächtig diese Pforten auch sind, sie erinnern an den Ernst, bestimmte Schwellen zu überschreiten und Türen zu passieren. Das Durchschreiten der Heiligen Pforte ist ein sichtbares Zeichen für den kühnen Entschluss eines Menschen, neue Wege zu beschreiten und neue Anfänge zu wagen. Es gab im Mittelalter das Verbot für ‚öffentliche‘ Sünder, ohne öffentliche Buße durch Kirchentüren hindurch in das Kircheninnere zu gehen. Wer also diesen Schritt wagt und eintritt, setzt ein äußeres Zeichen für eine innere Wandlungsbereitschaft. Ich möchte ein neues Leben beginnen und bekräftige diese Bereitschaft zur inneren Reinigung durch eine expressive Geste, durch den Eintritt in das Heiligtum durch dieses symbolträchtige „Tor zur Erlösung“.
Macht hoch die Tür! Machet die Türen weit! Auch außerhalb der Heiligen Jahre werden die Heiligen Pforten von den Gläubigen wie Berührungsreliquien verehrt; manche Teile der Türen sind blank abgegriffen. Die Hl. Pforte erinnert an die „enge Tür“ (Lk 13,24f; Mt 7,13f), an die Möglichkeit, endgültig vor eine verschlossene Tür zu geraten (Mt 25,10). Die Heilige Pforte ist ein Gleichnis für die geöffnete Himmelstür (Offb 3,8 und 4,1, vgl. Ez 43,1-4). Diese einladende Öffnung ist ein Hoffnungszeichen in dieser krisenhaften Welt; sie erinnert an die „Himmelspforte“, die Jakob am Ende der Himmelsleiter gesehen hat (Gen 28,17). Das Hl. Jahr 2025 ist auch ein Bekenntnis zum Sohn Gottes, „wesensgleich dem Vater“. Jesus Christus ist die Tür (Joh 10,7.9). „Wenn er öffnet, wird niemand schließen, wenn er schließt, wird niemand öffnen“ (Jes 22,22, vgl. Offb 3,7). Die Heiligen Pforten stehen ein Jahr lang offen, bis der Papst am 6. Januar 2026 die letzte Heilige Pforte an St. Paul vor den Mauern wieder verschließen wird. Er wird die Türen verschließen, nicht vermauern (lassen); das Vermauern geschah zum letzten Mal 1950; seit 1975 (Papst Paul VI.) wird sie nur verschlossen werden.
Das Heilige Jahr in Rom wird ein Großereignis praktizierter Frömmigkeit, aber auch eine logistische Herausforderung werden. Ähnlich wie vor Olympischen Spielen, löst ein Heiliges Jahr einen Bauboom und eine Welle von Restaurierungen aus. Es geht nicht nur um die Reinigung des Innenlebens der Pilger, sondern auch um die Reinigung und Verschönerung der Ewigen Stadt. Zahlreiche Baustellen seit dem Herbst 2023 in Rom zeigen, wie sehr sich dieses Pilgerziel für 2025 herausputzt. Heilige Jahre sind religiöse und kulturelle Erlebnisse. Geschätzte 33-45 Millionen Pilger werden in dieser faszinierenden Stadt erwartet.
Das Jahresfest ist ein „Jahr des Verzeihens“ und will unsere Freude über die Vergebung, die Freude der Umkehr und die Sensibilität für unsere eigene Gefährdung wecken. Pilgernd werden wir bereit, Schuld zuzugeben, die auch im Namen der Kirche geschah, und den neuen Anfang zu wagen. Innerhalb des Heiligen Jahres wird der Papst es sich nicht nehmen lassen, durch gezielte Heiligsprechungen Zeichen zu setzen. Oft waren Heilige Jahre vergangener Jahrhunderte von Heiligen oder von Heiligsprechungen geprägt. Die hl. Birgitta von Schweden und ihre heilige Tochter Katharina waren beim Heiligen Jahr 1350 dabei. Der hl. Karl Borromäus und der hl. Philipp Neri prägten das Heilige Jahr 1575 mit. Damals gingen große, von Laienbruderschaften geleitete Pilgerzüge durch Rom. Die Pilgerprozessionen wurden inspiriert vom hl. Philipp Neri, der die Trinitatisbruderschaft ins Leben rief und auch die ‚Sieben-Kirchen-Wallfahrt‘ anregte, wodurch S. Lorenzo furi le mura, Santa Croce in Gerusalemme und S. Sebastiano fuori le mura als Hauptpilgerziele zu den vier Patriarchalbasiliken hinzukamen. 1675 wurden Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz heiliggesprochen, 1925 Thèrese von Lisieux und der hl. Pfarrer von Ars, 1933 Don Bosco und 1950 Vinzenz Pallotti. Im April 2025 wird u.a. der junge, in Italien hochverehrte und in Assisi beigesetzte Carlo Acutis (1991-2006) als „Patron der digitalen Welt“ und „Influencer Gottes“ heiliggesprochen werden.
Heilige Jahre wurden immer auch zum Anlass für Neuerungen genommen: 1750 die Kreuzwegandacht und die Aufrichtung von Kreuzwegstationen im Kolosseum (1870 entfernt), 1925 die Einführung des Christkönigsfestes, 1950 die Verkündigung des Dogmas von der Leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel.
Geistliche Aspekte des Heiligen Jahres und der Durchschreitung Heiliger Pforten
Eine Pilgerfahrt nach Rom in diesem Heiligen Jahr, das bewusste Durchschreiten der besonderen Pforten, das Gehen auf uralten Pilgerwegen und das „Wallen“ hin zu den Gräbern der Heiligen in dieser wunderbaren Erinnerungslandschaft des Glaubens ist Glaube zum Anfassen, ist ein schönes ‚rituelles Spiel‘, eine geistliche Erneuerungsbewegung, kein triumphalistisches Event, keine bloße Massenkundgebung, keine veräußerlichte Leistungsfrömmigkeit. Angesichts der vielen Pilger wird die Frömmigkeit auch eine Geduldsübung in Warteschlangen vor den Heiligen Pforten werden. Als „Pilger der Hoffnung“ werden die Wallfahrer „die Schwelle der Hoffnung überschreiten“ (so der Titel eines Buches von Papst Johannes Paul II, 1994).
Die „Heilige Pforte“ zu überschreiten, ist als Teil der Abenteuerreise einer Pilgerfahrt eine Mutprobe. Franz Kafka, der mit seiner Gleichnis „Vor dem Gesetz“ die vielleicht wichtigste Tür-Parabel des 20. Jahrhunderts verfasst hat, hat diesen Moment des Zögerns und der Mutprobe der Überschreitung einer Türschwelle in seiner Kurzgeschichte „Heimkehr“ auf einzigartige Weise formuliert. für einen ‚‘verlorenen Sohn‘, der nach vielen Jahren zurückkehren will in sein Elternhaus: „Ich wage nicht, an der Küchentür zu klopfen. Nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren … Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jemand die Tür öffnete und mich fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.“ (Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, Frankfurt 1970, S.321). Die Türschwelle symbolisiert „Schwellensituationen“, auf der wir abwartend verharren und über die wir nach einer wichtigen Entscheidung oder an einem dichten Drehpunkt unseres Lebens in neue und unbekannte Welten eintreten. Es gehört Mut und Entschlusskraft, den Willen zum Neubeginn und Sehnsucht dazu, aus sich herauszugehen, diesen Übergang zu wagen und in das Innere des Heiligtums einzutreten.
Im Heiligen Jahr wird ein Zeitraum eingeräumt, um vielleicht geistliches Neuland zu betreten. In der römischen Sakraltopographie wird eine eher gewöhnliche Pforte zum außergewöhnlichen und herausfordernden Ort, der uns Pilger vor Gott verortet. Die Pforten sind insofern heilig, als sie den Zugang eröffnen zu dem, der allein heilig ist, zum ‚winzigen Jesus‘, der in seinem Leib die ‚enge Tür‘ ins Gottesgeheimnis ist.
Zudem begeht die Kirche 2025 das 1700-Jahre-Jubiläum des Konzils von Nizäa (heute das türkische Iznik) im Jahre 325. Hier wird im Dogma bekräftigt, was in Rom gefeiert wird: Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch ist „die Tür“ zum Heil. In ihm erfüllt sich die Zusage Gottes: „Ich habe vor dir eine Tür geöffnet, die niemand mehr schließen kann.“ (Offb 3,7). Voraussichtlich 2033 wird es erneut ein „außerordentliches“ Heiliges Jahr geben, 2000 Jahre nach dem Erlösungsereignis von Tod und Auferweckung des Herrn.
In unserer kalten und kriegerischen Welt voller diffuser Zukunftsängste und Hoffnungsarmut wollen wir „Pilger der Hoffnung“ sein Hoffnungswege gehen und an Hoffnungstüren klopfen. Hoffnung ist fragil, sie bedarf des Schutzes, der Stütze durch andere Hoffende, auch Hoffnung auf Verzeihung. Wir werden Boten geteilter und weitergegebener Hoffnung sein und uns den Frieden und die Vergebung Gottes schenken lassen. Jedes Jahr, das der Herr uns schenkt, kann ein Jahr der Gnade sein. Dieses Zeitfenster kann zu einem ‚Jahr der Versöhnung‘ und der geistlichen Vertiefung werden. Für viele Zeitgenossen ist die uns von Christus in der Taufe geöffnete Tür zur Kirche zugefallen, der Zugang zur Gemeinde zugeschlossen. Auch das bis heute mit der Tradition des Heiligen Jahres eng zusammenhängende Ablasswesen ist schwer zu vermitteln. Manche verharren unentschlossen auf der Schwelle. Der weihnachtliche Glaube („Heut‘ schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis“ (GL 247,4)), dieses vom Evangelisten Lukas besonders hervorgehobene „Heute“ des Heils, soll ein ganzes Jahr zeichenhaft in den suggestiven Zeichen der geöffneten Türen spürbar bleiben.
Viele Wege führen nach Rom und von Rom weg, doch es stimmt auch, was Papst Benedikt XVI. sagte: „Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt“.
Kurt Josef Wecker
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Kurt Josef Wecker