Du da – halt mal! Ereilt uns auch irgendwann einmal dieser „Simeon“-Moment? Ein spätes Weihnachten?
Anfang Februar feiern wir ein Fest in spätweihnachtlichem Kerzenschein, an dem ein zunächst fremder Mensch unerwartet Jesus in die Hand nehmen darf. Maria übergibt ihr Ein und Alles für einen gewissen seligen Augenblick einem Fremden. Diese Geste Marias im Tempel vierzig Tage nach dem Geburtstag Jesu geschah nicht hastig und aus der Not geboren, sondern bewusst. Sie tat dies, nachdem sie ihr Reinigungsopfer am Tempel dargebracht hatte, den erstgeborenen Jesus zunächst einem namenlosen Priester 'dargereicht‘ hatte und darin ihr Kind Gott 'dargestellt' hatte. Danach zeigte sie das Kind einem alten Mann und einer alten Frau. Sie übergab dem Simeon den 40 Tage jungen Jesus wie eine Weihnachtsleihgabe. Die junge Familie kam unauffällig, ohne Engelschöre und Heiligenschein - vielleicht schon aus dem fernen Nazareth und nicht mehr dem nahen Bethlehem - nach Jerusalem. Wie auf Zehenspitzen betritt das Geheimnis des Glaubens den Tempel. Niemand ahnte etwas von dieser verborgenen Fronleichnamsprozession der Heiligen Familie nach Jerusalem. Auf einen solchen Tempelgang begaben sich viele junge Familien und Pilger und erfüllten das Gesetz des Mose (vgl. Gal 4,4). Maria und Josef reihen sich ein in das Übliche, sie wollen keine Ausnahme sein, diese beiden Juden unterstellen sich und Jesus der Thora. Die Tafeln des Gesetzes bilden das Zentrum dieser Darstellung des „Meisters der Pollinger Tafeln“ (1444), einem spätgotischen Marienaltar, der heute in Nürnberg im Germanischen Nationalmuseum ausgestellt ist. Die Begegnung der jungen Eltern mit dem alten Mann (leider fehlt auf dem Gemälde die alte Frau Hanna) geschieht wie in einer gotischen Kirche des Spätmittelalters. Nur eine kleine Episode, von dem sonst niemand (außer Lukas, der Evangelist) Kenntnis nimmt. Noch einmal Epiphanie, Lichterfest, Lichtmess. Auffallend jedoch ist: Christus - er ist ein vierzig Tage junges Baby - steht unsicher, von der Mutter gestützt und ängstlich auf Maria blickend auf dem Opferaltar. Das Kind ist unbekleidet, die ‚nackte Wahrheit‘, während die anderen Gestalten in prächtigen Gewändern mit imposantem Faltenwurf dargestellt werden. Jesus, nackt und bloß wie in der Krippe, bei der Taufe im Jordan, am Kreuz! Josef, die Randfigur, trägt das ‚Arme-Leute-Opfer‘, zwei Tauben in das Heiligtum. Maria, die „Monstranz Gottes“, lässt Jesus los, reicht ihn, schiebt ihn sanft Simeon hinüber; das in vielen Liedern besungene und in der Heimbacher Pietà uns vor Augen gestellte, bis in den Tod durchgehaltene untrennbare Miteinander von 'Jesus und Maria' wird für einige Augenblicke gelöst. Schwer fällt es Eltern, ihr Kind irgendwann einmal loszulassen. Im Binnenraum der Familie soll es trotz aller beruflichen Flexibilität so lange wie möglich geborgen sein. Oft bleibt eine verborgene Nabelschnur, die Heranwachsende bindet und hindert, ihr eigenes Leben zu führen. Gerade auf den Erstgeborenen, den 'Thronfolger', sind große Hoffnungen gerichtet. „Helikoptereltern“ lassen ihr Kind nur schweren Herzens ausziehen, in die weite Welt, hinein in den Ernst des Lebens.
Freilich: junge Eltern legen gerne das Neugeborene in die Arme der Großeltern oder Paten, bei der Taufe auch zum Foto in die Arme des Priesters oder Diakons. Sie erleben bewegt, wie sich der Gesichtsausdruck der Älteren ändert, wie ein beinahe verlegenes Lächeln über manchmal verkniffene Mienen geht, wie alte Augen jung werden und zu leuchten beginnen. Sie leuchten, weil sie im Kind der Zukunft ins Auge sehen. Sie ahnen, dieses Kind wird etwas erleben, gestalten und erdulden, auch wenn wir Älteren nicht mehr auf Erden sind.
Heute also wird Jesus der Welt präsentiert. Es ist, als würde Marias Gebärdensprache sagen: Er, den ich zur Welt brachte, ist für alle Welt da, besonders für sein eigenes Volk Israel, mit dem er heute Begegnung feiert. Simeon ist zwar ein völlig fremder, aber eben doch wesensverwandter Mensch mit adventlichem Durchhaltevermögen. Einer, der sein alterndes Leben diesem ‚neuen Adam‘ entgegenhält und dabei ein „junger Alter“ bleibt. Einer, der es noch nicht satt ist, sondern erwartungsvoll leere Hände dem Christuskind entgegenhält. „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr!“ Einer, der die Nerven und den Glauben hat, auf – Gott zu warten! Einer, der mich 40 Tage nach Weihnachten fragt, ob ich vor Gott noch ein Wartender bin oder ob mir das alle Jahre wieder gefeierte Weihnachtsgeheimnis längst schon überdrüssig geworden ist … Maria ist 'nur' Kommunionhelferin. Nimm ihn! Gott für dich! Maria überreicht Ihn den Repräsentanten des Volkes, in dem noch heute viele messianisch Geprägte auf diesen Messias warten.
Der Jude Franz Kafka sagt es so: „Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein.“ Simeon wartet auf Erlösung, auf die Begegnung mit dem Heißersehnten. Er steht für eine Kirche, die nicht in Selbstdarstellung aufgeht und der es nicht um ihren Selbsterhalt und ihre erfolgversprechenden Strukturen geht. Simeon hat es nicht nötig, sich selbst eitel zu präsentieren. Selbstvergessen ist er rechtzeitig zur Stelle. Er ist „voll präsent“.
Und Marias Geste verdeutlicht: Jesus Christus ist nicht mein Privatgott, mein Familien- und Stammesgott, mein Gemeinde- und Kirchengott, er ist eine ‚öffentliche Person‘ und gehört aller Welt, ist unübersehbares Licht zur Erleuchtung aller Welt, Licht für uns Heidenchristen. Er ist „der Heiden Heiland“. Niemals geht Jesus in den Besitz frommer Familien und geistlicher Bewegungen, nie in den Besitz der Kirche und ihrer Dogmen über. Kirche ist dazu da, ihn nicht eifersüchtig für sich zu behalten, sondern wie Maria loszulassen, ihn anderen zu gönnen. Maria versteht das und gibt ihn frei und gönnt dem alten Mann einen ‚glückseligen‘ Moment.
Ich vergleiche Simeon und Hanna mit zwei sympathischen Wochentags-Kirchengängern. Sie haben die Ruhe weg. Sie gehören nicht zu denen, die meinen: wir haben irgendetwas verpasst, wenn wir nicht überall dabei sind. Ich weiß, wie viele ältere Menschen irritiert sind vom gegenwärtigen Zustand der Kirche. Sie haben ihr Leben lang ihr Vertrauen in diese Institution gesetzt, die viele Menschen enttäuscht und verletzt hat. Auch viele ältere Christen sagen heute: Es geht auch ohne Kirche und Kirchgang. Wie viel stumpfe Hoffnungslosigkeit in manchen Altenheimen, wie viel zynische Resignation auch bei jungen Menschen, die nichts mehr von Gott erwarten und früh mit ihrem Leben abschließen!
Anfang Februar feiern wir zwei Menschen, deren Advent erst spät in Erfüllung, in die schöne Bescherung eines „Simeon-Moments“, einer „Hannah-Stunde“ übergeht. Ich wünsche Ihnen und Euch 2025 diese Augenblicke der Gewissheit, des Entgegenkommens, des späten Glücks. Augenblicke, in denen wir vielleicht ganz unerwartet zu Christus-Trägern, zu Christophoroi, zu Monstranzen werden. Christinnen und Christen sind keine 'Macher' und Selbstdarsteller, sondern geduldig Wartende und glückliche Empfänger. Da kann es geschehen, dass wir mitten im Alltag Lichtmess feiern.
Darstellung des Herrn - das ist nicht der große Auftritt eines Stars, sondern die Entdeckung der ungewöhnlichen Gottesnähe und der nackten Wahrheit der Gottesliebe im Gewöhnlichen und Normalen. Auch uns, unseren Händen, wird Er anvertraut. Dieser Moment ist für Erstkommunionkinder etwas Aufregendes. Zu Recht. Ein leises Geschenk, zeitlich betrachtet nur ein flüchtiger Augenblick und keine laute Aktion. Gott überlässt sich uns und will nicht von uns lassen. Meine Hände dürfen ihn anfassen (1 Joh 1,1). Lassen wir den Weihnachtsglanz nicht zu schnell verglimmen, lassen wir diese Begegnung nicht einfach hinter uns.
Ich wünsche Ihnen und Euch, Jungen und Alten, solche Lichtsekunden in 2025.
Kurt Josef Wecker