So viele Finsternisse in der Welt! Wir sehnen uns nach Lichtblicken. Zur Weihnacht möchten wir umleuchtet sein, und wir wollen glauben, dass das wahr ist, was wir feiern: dass dieser Welt ein unauslöschliches Licht aufgegangen ist, ein Hoffnungslicht gegen die Irrlichter und grellen Spots, gegen die selbsternannten Lichtfiguren und schnell vergessenen ‚Stars‘, die tödlichen Lichtblitze der Raketen und Bomben. Weihnachten 2024 feiern wir in einer bedrohten Gegenwart, im Osten Europas, im Nahen Osten. So viel Dunkelheit, erloschene und zerstörte Welt! Zappenduster ist es - oder viel schöner Schein. Wir werden, 80 Jahre nach der Zerstörung so vieler Städte im Bombenkrieg an das Dunkel des 2. Weltkriegs erinnert; an die Markierungspunkte über unseren Städten in den Kriegsnächten bei den Bombenangriffen, die man schauerlicher weise „Christbäume“ nannte. Wir brauchen mehr Licht, ein Licht, das der ewigen Nacht seinen Schrecken nimmt und uns erleuchtet und zu Erleuchteten verwandelt: „Licht war. Rettung“ , so Paul Celan im Gedicht „Einmal“.
„Und es ward Licht!“ Wir feiern Weihnachten den Advent des Lichtes. Ein Licht wird uns geschenkt, das Wunder eines wie von selbst leuchtenden Kindes in der Nacht. Der katholische Barockmaler Peter Paul Rubens (1577-1640) bringt uns in die Nähe dieser menschgewordenen Lichtquelle Gottes: Gottes Krippenspiel mit Licht und Dunkel. Setzen wir uns diesem stillen Bild aus!
„Es gibt nur eine Methode, um Bilder zu verstehen – nicht versuchen, sie zu interpretieren, sondern sie so lange anschauen, bis das Licht hervorbricht“, sagte die französische Philosophin Simone Weil. Wagen wir trotzdem behutsam den Weg der Bildinterpretation und warten wir, bis das Licht hervorbricht.
Vermutlich am Ende seines römischen Aufenthaltes (1602,1606-1608), kurz vor seiner Rückkehr nach Antwerpen zu seiner kranken Mutter im Oktober 1608, vollendete Rubens dieses Gemälde im Juni 1608. Rubens‘ Nachtstück war als Altarbild für die Cappella Constantini in der Oratorianerkirche des hl. Filippo Neri in Fermo in der italienischen Region Marken bestimmt und hängt heute noch in dieser Stadt in der Pinakothek. Rubens war nie in Fermo gewesen. Doch dieses in Rom geschaffene Christnachtbild gefiel dem Maler so gut, dass es eine eigenhändige Replik gibt, die man heute in der Sint-Paulskerk in Antwerpen findet, außerdem eine Modellskizze in der Eremitage in St. Petersburg und eine Pinselstudie in Amsterdam. Man nennt diese Hirtenanbetung „Die Nacht“, „La Notte“. Wir sehen nur einen Bildausschnitt aus diesem Altarbild, das erst später ein Galeriebild wurde; die gleichzeitig über der Personengruppe schwebenden Putti in ihrer virtuosen Bewegung fehlen leider.
Ein leises Bild. Wir bleiben ‚unten‘ in der irdischen Sphäre und nehmen teil am nächtlichen Besuch der Hirten am Geburtsort Jesu, der seltsam unbestimmt bleibt. Sind wir zur mitternächtlichen Stunde draußen im Freien oder in einer lichterfüllten Erdhöhle? Rubens verzichtet auf jegliches Dekor: Ein Kunstwerk ohne pompöse „barocke Leidenschaft“. Mein Blick wird auf die Bildmitte fokussiert, dorthin, wo das Licht der Welt (Joh 8,12; Joh 9,5) das Licht dieser Welt erblickt. So viel liegt im Dunkel der Nacht. Im Dunkeln geschieht das Neue. Die Bühne des Geheimnisses bleibt undefiniert. Der Bildraum ist eng. Sechs Menschen rücken dicht zueinander, bilden einen Halbkreis um das Gotteskind. Allein aufgrund der lukanischen Notiz, dass die Hirten Nachwache hielten bei ihren Herden (Lk 2,8), wissen wir, dass die Geburt Jesu nachts stattfand. Sein Kommen schafft die „Heilige Nacht“, die wahre „Zeitenwende“. Die Weih-Nacht ist nicht allein zum Schlafen da!
Rubens versteht es, den Stimmungswert der Nacht und das Spiel mit den expressiven Lichteffekten voll auszuschöpfen. Ohne das überirdische Licht wäre die Szenerie in absolutes Dunkel getaucht. Wer die sinnenfreudige Wucht sonstiger Gemälde des Barockkünstlers kennt, ist von der gefühlsbetonten Innigkeit dieses lichtmystischen ‚Nachtstücks‘ und der lautlosen Welt, die Rubens schafft, beeindruckt. Liebevolle Andacht. Auch ein Genie wie Rubens hatte Vorbilder und brauchte Anstöße von außen. Vor allem Correggio (Antonio Allegri) und seine damals in der Stadt Reggio Emilia von Rubens studierte und heute in Dresden hängende „Heilige Nacht“. Correggio inspirierte den Flamen. Vielleicht ist diese Bildschöpfung auch eine Reverenz Rubens‘ vor dem großen italienischen Kollegen Caravaggio und vor dessen Kunst des „Chiaroscuro“-Effekts, des magischen Helldunkels. Das deutsche Wort „Stimmung“ fällt mir ein, diese einzigartige Stimmung, in die uns die Nacht des Heiles hineinversetzt. Diese Nacht hat nichts Finsteres.
Ja, Gott lässt in dieser Nacht die Dunkelheit und das Licht Regie führen. Es gibt nur eine einzige Beleuchtungsquelle. Kunstwissenschaftler sprechen vom „sakralen Leuchtlicht“ (Wolfgang Schöne). Es gibt keine sekundäre, natürliche Lichtquelle (Mond oder Stern, Abend- oder Morgenrot), kein „künstliches“ Licht (wie z.B. eine brennende Kerze, Laterne oder ein Feuer). „Ein unvergleichliches Licht ging von ihm aus, ein solcher Glanz, dass man ihn nicht einmal mit der Sonne vergleichen konnte“, so bezeugt die heilige Mystikerin Birgitta von Schweden (1303-1373) in ihren „Revelationes“ (Kap 7,21; 1372) diesen Augenblick. Ihren Visionen verdankt die Kunstgeschichte wohl die Darstellung der nächtlichen Geburt Jesu und der Nacktheit des Kindes. Im Jahre 1606 erschien in Rom eine lateinische Übersetzung der ‚Offenbarungen‘ der hl. Birgitta, und Rubens ließ sich vermutlich von diesen inspirieren. Christus ist wie eine mystische zweite Sonne, „das aufstrahlende Licht aus der Höhe“ (Lk 1,78f) die „Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal 3,20), die wahre „unbesiegbare Sonne“. „Er leuchtet wie die das Licht der Sonne, ein Kranz von Strahlen umgibt ihn.“ (Hab 3,4). „Ich bin das Licht der Welt“, wird der erwachsene Jesus später sagen (Joh 8,12). Wie anders als mit der Darstellung des „lumen divinum“, des übernatürlichen Lichtglanzes (Lk 1,78f) kann man dem Einbruch des Überirdischen und dem heiligen Augenblick der Geburtsoffenbarung Ausdruck verleihen? Keine Zugluft bedroht dieses intensive sakrale Licht. Keine Person leuchtet aus sich selbst. Die Gestalten sind unterschiedlich stark beleuchtet und blieben (wie der hl. Josef) im Schatten, würden sie nicht vom Kind angestrahlt. Wir leben im Widerschein dieses Einen. Die Menschwerdung Gottes ist das „Unwahrscheinlichste von der Welt“, so unwahrscheinlich, dass von einem ‚gewöhnlichen‘ Kind übernatürlicher Glanz ausgeht und die Welt verwandelt.
Rubens konzentriert sich in seiner Altarmalerei auf das Wesentliche dieser Nachtszene; kein Landschaftsausblick; selbst Ochs und Esel fehlen. Wir sind auf Nahsicht, eingeladen zur sanften Annäherung. Maria steht am rechten Bildrand, dahinter – kaum im Dunkeln sichtbar – Josef, der mit vor der Brust devot gekreuzten Armen nach oben zu den Engeln blickt. Niemand steht dem Kind im Weg und niemand berührt es; es ist uns Betrachtern zugewandt; wir sind ‚auf Augenhöhe‘ mit ihm. Das von einem weißen Tuch hinterfangene Kind – wer denkt angesichts dieser ‚Hirtenmesse‘ nicht an die Hostie, die Eucharistie auf dem weißen Altartuch in der Messfeier - wird von Maria präsentiert, so als zeige sie das Kind, als zöge ihre linke Hand mit dem Schleier den Zipfel des Vorhangs vor dem (schlafenden) Geheimnis fort und packte sie sanft Gottes Weihnachtsgeschenk aus. Nichts Eigenmächtiges geht von ihr aus. Sie öffnet uns den Zugang zum Mysterium dieser Nacht; sie ist, wie ein Kirchenvater sagte, „die Mutter der herrlichen Sonne“.
Auch die Kirche findet sich wieder in dieser Mariengeste; sie kann nie mehr sein als Einweiserin in das Geheimnis der Selbstverkleinerung Gottes, als Zeugin der nackten Wahrheit Gottes in diesem Kind. IHM schenkt sie ihre Aufmerksamkeit. Sie lässt das Wunder geschehen, feiert SEINE Gegenwart. Scheu und überwältigt umgibt sie IHN, sie bezieht ihr Licht von anderswoher, vom LUMEN Christi.
Die Mutter Gottes trägt ein rotes Kleid und einen blauen Umhang. Aus dem Gemälde spricht die tiefe Marienfrömmigkeit Rubens‘. Maria steht, sie kniet nicht; von der Lichtquelle ist sie am stärksten getroffen und bedarf keines Heiligenscheines. Ihr Inkarnat ist strahlend weiß. So wie Gott sein dem Menschen zugewandtes Antlitz in der Heiligen Nacht offenbart, so vermittelt Maria uns den Corpus Christi, eröffnet sie uns mit der zarten Geste der Entschleierung Jesu das Kraftfeld des Heiligen, den glühenden Kern des Glaubens: „Seht!“ (1 Joh 3,1) Seht das Geheimnis des Glaubens! Dieser unbewegliche Neugeborene ist – wahrer Mensch und wahrer Gott, wie wir im Dogma von Nizäa (325) und von Chalzedon (451) bekennen. 2025 erinnern wir Christen uns daran, dass das Bekenntnis zum Paradox des Gottmenschen „Sohn Gottes, wesensgleich dem Vater“ vor 1700 Jahren im kleinasiatischen Nizäa formuliert wurde. Die Nacktheit des Kindes zeigt: Es ist der „neue Adam“ (1 Kor 15,20-22). Jesus ist trotz seines Selbstleuchtens kein Sonnen- oder Lichtgott.
Eigentlich braucht das Intime keine Zuschauer. Aber Christi Geburt ist ein ‚öffentliches Ereignis‘. Erste Zeuginnen und Zeugen, Christusverehrer und Anbeterinnen sind Hirten und Hirtinnen. Rubens malt sie als rustikale, lebensechte Figuren. Dieses Licht-Kind zieht sie an. Ihre Resonanz beim Krippenbesuch wird im Evangelium gar nicht beschrieben (vgl. Lk 2,16f), doch Rubens fühlt sich in diese späten Gäste beim Kind ein, zeigt die verschiedenen Reaktionen des Glaubens und die seelischen Affekte der Beteiligten. Er malt, wie sie den Anblick dieser göttlichen Klarheit, verborgen im Kind, nicht fassen können und demütig und liebevoll, andächtig und auch ein wenig scheu „das Bündel Gottes“ (Paul Konrad Kurz) umgeben. Eben noch haben die Hirten plötzlich den von himmlischem Licht umstrahlten Botenengel gesehen: „Herrlichkeit des Herrn strahlte rings um sie auf“ (Lk 2,9; vgl. Jes 60,1). Gerade noch „eilten“ die neugierigen Hirten und Hirtinnen; und nun sind sie angekommen, staunend, fassungslos, betroffen und geblendet vor dem Geheimnis, dem Ruhepol des Bildes. Eng geschart finden sich diese nächtlichen Besucher ein im Kegel eines Lichtes, das sich auf sie in abgestufter und abgeschwächter Weise mitteilt (Joh 1,9) und Licht-Schatten-Kontraste bewirkt. „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht“ (Jes 9,1). Schützend und voller Ergriffenheit umgeben diese ‚Alltagsmenschen‘ das Gotteswunder. Hochaufgerichtet und ausdrucksstark steht ein Hirte, gestützt auf einen Stab, gegenüber der Heiligen Familie, geblendet vom „selbstleuchtenden Christuskind“ (Wolfgang Schöne). Ein Moment der Bewegung, beinahe des sanften Erschreckens: Mit seinem Handrücken schirmt er seine Augen schützend ab angesichts der Blendung durch diese ‚nackte Wahrheit‘, den ‚Splendor divinus‘, den göttlichen Glanz auf dem lichtspendenden Corpus Christi; ein Glanz, der die Verklärung Christi vorwegnimmt (Lk 9,32). Blendung und Erleuchtung zugleich! Der jüngere Hirt blickt erstaunt zum Älteren empor. Mit ihren nackten Beinen und Füßen erinnern diese nächtlichen unerwarteten Gäste an Moses vor dem brennenden Dornbusch (Ex 3,5). Sie geraten vor das Gottgeheimnis, betreten heiligen Boden. ER ist da - für uns! „Gott ist Licht, und keine Finsternis ist in ihm.“ (1 Joh 1,5). Eine ältere Hirtin kniet oder sitzt nahe beim Kind, eine weitere Hirtin tritt aus dem Hintergrund und lächelt das Kind an.
Bei aller Vermenschlichung auf diesem Altarbild – hier offenbart sich der Sohn Gottes, hier geschieht Epiphanie des Fleischgewordenen, hier liegt der Dreh- und Angelpunkt der Welt in unserem Augen-Blick. Gott lichtet sich und „gibt der Welt ein‘ neuen Schein“ (Martin Luther in GL 252,4). Die Hirten erkennen die Göttlichkeit des Neugeborenen und wir folgen ihrem anbetenden Blick, ihrer großen Freude. „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen.“ (Paul Gerhardt in GL 256,4).
Ich wünsche uns, dass Weihnachten mehr ist als ein vorübergehender Lichtblick. Werden wir „Pilger der Hoffnung“ (so das Motto des am Weihnachtsabend eröffneten Heiligen Jahres), treten wir mit Hirtenaugen in dieses Bild hinein. Lassen wir uns erfassen von der Stille des Heiligen. Jesus, wir begreifen dich nicht! Doch auf unseren Gesichtern liegt Sein Glanz (vgl. 2 Kor 3,18). Hoffentlich geht uns das Staunen nicht verloren. Hoffentlich bleiben wir bei Troste, dass dieses göttliche Licht nie aufgehört hat, in die Finsternis dieser Welt hineinzuleuchten.
Eine von diesem Hoffnungslicht erleuchtete Weihnacht und ein friedliches 2025!
Kurt Josef Wecker