Erntedank – Nichts zu danken?!

Betrachtung zum Oktober von Kurt Josef Wecker

(c) CC0 1.0 - Public Domain (von unsplash.com)
Datum:
So. 29. Sept. 2024
Von:
Kurt Josef Wecker, Pfr.
„Ich würde ja gerne danken, ich weiß nur nicht wofür…“, so ähnlich soll die hl. Elisabeth von Thüringen reagiert haben, als man sie mit ihren Kindern aus der Wartburg warf und sie sich in der Gosse von Eisenach wiederfand – ein Bündel voll schreiendem Elend. Wofür Gott danken? Manchen fehlen die Worte der Dankbarkeit; vielleicht ist der Adressat des Dankes verblasst. Ratlos und sprachlos erlebt sich selbst eine Heilige wie Elisabeth an einem Tiefpunkt ihres Lebens. Zu viele Dank-Tage? Am 3. Oktober sollten die Deutschen dankbar sein für die Wiedervereinigung, zu Erntedank für die Ernte. Der meteorologische Herbstbeginn läutet die Zeit der Bilanz ein, legt mir den Dank für das Geschenk des endlichen Lebens nahe. Erntedank – da können wir uns vor Gott eingestehen, wie schwer uns das dankbare und aufmerksame Leben fällt – dies auch angesichts üppig aufgerichteter Erntedanktische und -körbchen, die sinnenfroh vor dem Altar mancher Kirchen drapiert sind. Erntedank ist mehr als nur religiöse Folklore. Die Lebensernte, anschaulich und unsichtbar, aber auch manche Mangelerscheinungen sollen heute ins Herbstlicht, nein - in Gottes schöpferisches Gegenlicht hineingehoben werden.
 
Ich wünsche uns, dass wir alle einen sehr konkreten, urpersönlichen Grund haben, „Gottseidank“ zu sagen.  Gottseidank – das ist ein wunderliches Kompositum. „Gottseidank“ (2 Kor 9,15), dass wir auferstehen dürfen und können. Danke, dass wir denken, nach-denken können, dass wir allen Grund haben, wohltuende Erfahrungen und Begegnungen hineinzulegen in den Erntekorb. Unsere Erntedank-Ensembles vor den Altären verdeutlichen: Ein wenig von unserem Überfluss fällt ins Auge – pure Natur und durch unsere Hände gegangene kultivierte Natur. Leicht verderbliche Ware mit Verfallsdatum, „die bunte Gnade Gottes“ (1 Petr.4,10). Wir zeigen uns heute vor Gott mit kleinen Zeichen für das, was uns kostbar und wichtig ist. Und wir gratulieren dem Schöpfer: Gott das hast du gut gemacht! Dankeschön sagen wir für das, was unfassbar ist wie die frische Luft und was mir nie selbstverständlich werden darf. Für etwas, was mich überwältigt hat oder was in mir ein flüchtiges Aufatmen hervorrief. Womit habe ich verdient, dass ich ‚Früchtchen‘ da bin, dass mir dieses Glück widerfuhr, dieser Mensch begegnet ist, dass ich aus dieser brenzlichen Situation so glimpflich und mit heiler Haut davonkam, dass ich das Verlorengegangene oder schon verloren Gegebene wiederfand? Es hätte ja auch ganz anders kommen und ausgehen können! Mit so mancher glücklichen Wendung war nicht zu rechnen. Oder mit der Wohltat, dass mir – trotz allem – Vertrauen geschenkt und mir – wider Erwarten – vergeben wurde!
Ja, es gibt Glücksmomente und Widerfahrnisse, dafür kann ich mich bei keinem Menschen bedanken. Da suche ich einen ganz anderen Adressaten, den ich mit meinem Gebet umarme. Wem anders als Gott kann ich Danke sagen dafür, dass ich Geschöpf bin und bleibe, auch wenn mir die ‚Selbstoptierung‘ nicht gelingt?! Wohin soll ich mich wenden, wenn ich dankbar wahrnehme, dass ich da bin, mich tagtäglich entgegennehme aus seiner Hand, dass mir immer noch, immer wieder Lebenszeit geschenkt wird? Dass es diese Welt gibt, auf der die Ernten wachsen und reifen? In wachen Augenblicken geht mir auf: Nein, ich bin nicht der große Macher; ich bin mir geschenkt, beschenkt mit mir selbst, auch mit meinen Talenten, meiner Phantasie. Ich wurde mir zugeeignet und durfte Fuß fassen auf ‚Schwester Erde‘. Erntedank - Denk dein Leben als Geschenk, als Zueignung.  Ich habe ein Zuhause, eine Heimat und muss sie mir nicht erst erobern. So sehr ich für mich verantwortlich bin, gilt umso mehr: Für mich ist gesorgt. Diese Selbsterfahrung ist verwandt dem Bekenntnis: Ich bin Geschöpf, ich bin nicht Herr meiner selbst, meiner Welt, meiner Ernten. Zwar gilt: Wer kärglich sät, wird auch kärglich ernten. Aber die andere, die gnadenvolle Wahrheit gilt genauso: Ich bin ein Bedürftiger und darf sogar ernten, wo ich nicht(!) gesät habe. Gracie!
Wir blicken hinein in den womöglich phantasievoll ausstaffierten Altarraum und nehmen darin die Spuren dessen wahr, der diese Resultate seiner Einfallskraft - und uns als seine Geschöpfe – ins Werk gesetzt hat. Die Erntegaben sind vielfältige Liebeserklärungen Gottes an uns, die wir mehr sind als Endverbraucher, Wir dürfen auch Genießer sein! Ja, wir dürfen die Erntegaben kultivieren und genüsslich verzehren. Wir wollen die Natur würdigen als Gottes Kunstwerk. Auf unseren Lippen, in Liedern und Gebeten outen wir uns und machen den Dank hörbar. Der Dank ist mehr als ein diffuses Gefühl. Dank stellt sich ein, wenn ich entdecke, dass ich mein Leben nicht in der Hand habe, dass ich von guten Mächten umgeben bin; dass es ein für die Geschichte Mitteleuropas ungewöhnliches Wunder ist, dass wir 85 Jahre nach Kriegsausbruch so lange in Friedenszeiten leben dürfen – ein fragiler Friede, wie der nahe Krieg in der Ukraine zeigt.
Womöglich macht sich weniger der ‚Geist der Dankbarkeit‘ als vielmehr ein Gefühl des Unbehagens in unserem Gotteshaus breit. Erntedank wirkt wie eine unzeitgemäße Tugend, die man neu polieren und zum Strahlen bringen muss. Wofür Dank sagen in einer Welt der Dienst-Leistungen, auf die ich Anspruch anmelde?
Viele kennen eine tiefe Dankbarkeit, die gar nicht an (einen) Gott glauben. Niemand, auch kein Gläubiger, ist von der Krankheit der Undankbarkeit, der Verbitterung, der Gleichgültigkeit, der Vergesslichkeit gefeit.
Es wird manche Zeitgenossen auch in unseren Pfarrgemeinden geben, die nicht sagen könnten, wem und worum sie – beim besten Willen – danken sollten. Menschen kommen in die Gottesdienste oder zur Marienwallfahrt, denen zum Klagen und Bitten, zum Suchen und Fragen, Schweigen und Trauern zumute ist, aber eben nicht zum Dankgebet.  „Nichts zu danken“, sagen wir zuweilen beinahe abwehrend.
Wir müssen respektieren, wenn unter uns Menschen sind, die nicht genau wissen, an wen sie ihren Erntedank richten sollen und deren Leben eben keine einzige große Danksagung ist. Was, wenn unser Dank ins Leere ginge? Wenn ich meine Fähigkeit zu staunen verloren hätte? Es mag Gemeindeglieder geben, die können nur ihre Lippen bewegen zu unseren Erntedankgebeten, doch sie können beim besten Willen nicht für sich und ihr Dasein dankbar sein; oder es fällt ihnen niemand ein, für den sie dankbar sind. Es ist ein Wunder, wenn ich danken kann!
Auch Zeitgenossen, denen das Glauben schwerfällt, atmen dankbar auf: „Da habe ich noch mal Glück gehabt“. „Wie habe ich das nur geschafft…?“. „Womit habe ich das verdient…?“.
Verordneter und erzwungener Dank ist eine giftige Sache. Mir steht es nicht zu, Sie und Euch auf Erntedank hin zu trainieren, zu einem ‚Dankopfer‘ zu zwingen und zu vermitteln: „Nun bedankt euch gefälligst!“ - oder Ihnen mit pädagogisch drohendem Zeigefinger nahezulegen: „Du musst (Gott) dankbar sein!“  Was für eine seltsame Mixtur von Frömmigkeit, Zucht, Zwang, Vorwurf, eingeschliffenen Ritualen und erzwungenen Verhaltensmustern wäre das. Der Satz „Du sollst danken“ ist nicht das elfte Gebot, keine pflichtschuldige Floskel. Mein „Merci“ wächst spontan aus einem bewegten Herzen, dem das Leben nicht selbstverständlich ist.
 
Das wäre Erntedank: Mir fallen Menschen ein, für die ich Gott danke. Du bist dankenswert! Dankeschön, Gott, für den liebenswerten, aber auch für den schwierigen Anderen!  Zu guter Letzt wollen wir dem danken, der seine Gnade auch dem Undankbaren schenkt und dem, welchem nicht nach Erntedank zumute ist. Gott ist auf meinen Dank nicht angewiesen und freut sich doch, wenn mein Herz Resonanz gibt. Danke, Gott, dass du da bist, einfach so …
 
Ihnen und Euch einen gesegneten, goldenen Oktober
 
Kurt Josef Wecker, Pfr.