Von:Kurt Josef Wecker, Pfr.
Martin hatte vor 1708 Jahren Geburtstag, er starb vor 1627 Jahren. 81 Jahre wurde er alt, sehr alt für seine Zeit. So lange ist das her! So fern ist er und doch so nahe! Damals brachte Martinus Licht in diese Welt.
Hergarten und Abenden haben ihn als Pfarrpatron, in unseren Gemeinden wird er in Martinszügen geehrt (seltsamerweise nicht in Frankreich, wo er doch beheimatet ist). Im Mai bin ich mit einigen Gemeindegliedern nach Tours an der Loire gepilgert; wir haben das Grab dieses Bischofs in der Krypta seiner Kirche besucht, dort die Messe gefeiert und „Sankt Martin, Sankt Martin …“ gesungen.
Zu den Patrozinien in Abenden am Vorabend (10.11. um 18.00 Uhr) und am Montag 11.11., also dem eigentlichen Martinstag, um 18.00 Uhr in Hergarten, lade ich herzlich ein.
In Nideggen ist am 10.11. um 9.30h ein Kinder- und Familiengottesdienst zum Martinstag.
Vor den Martinszügen in Vlatten (7.11. 17.30h), auch in Berg (8.11. 18:00h) oder Schmidt (11.11. 17:45h) sind zuvor kleine Wortgottesdienste zur Einstimmung geplant.
Das Motto der nächstjährigen Erstkommunion „Ihr seid das Licht der Welt!“ erinnert an die leuchtenden Laternen am Martinstag, die unsere Kinder als „Kinder des Lichtes“ basteln und damit dem hl. Martin hinterherlaufen. Alles für einen fernnahen Heiligen! Manchmal stocke ich: Ist das, was wir über ihn erzählen, nur ein schönes Wintermärchen, bloß eine schöne heilige Szene, von Kindern aufgeführt, nur das Sinnbild für ein gutes Werk, die Illustration des Jesusgebotes, Nackte zu bekleiden? Ist Martinus nur eine schöne Lichtgestalt im sinkenden Jahr, ein liebenswürdiger Vorbote des Advents, der folgenlos durch das Kirchenjahr wandert und abwandert...?
So ein Getöse, so viel „Jedöns“ um ein geteiltes Textil? Die folgenreiche Kleiderspende für einen Bettler im nordfranzösischen Amiens. Eine Mantelhälfte, die keinem so richtig hilft! Die keinem von beiden steht?
Jedöns um einen Mantelfetzen, der nur noch für die Altkleidersammlung taugt, bestenfalls! Und doch kommt uns ein Heiliger nahe, der nicht nur in diesem einen Augenblick – der das Gewicht der Ewigkeit hatte – seine Körperwärme, sein Herzblut mit einem Fremden teilte.
In dieser unscheinbaren und doch faszinierenden Szene vor dem Stadttor im winterlichen Amiens leuchtet die Wahrheit eines ganzen Lebens auf. Da gab es einen, der sich selbst ein Leben lang 'gab' und verteilte: seine Wärme, seinen Glauben, sein Zeugnis, seine Wunder, sein Ansehen. Genau das ist ein Heiliger, der zugleich auch ein beinharter Asket war, ein „Gefäß Gottes“: einer, der den heiligen Gott in Wort und Tat nachahmte und durchscheinen ließ. Ja, das galt für diesen Soldaten Gottes: „Ohne Kampf keine Krone“. Das galt auch später für diesen Parade-Asketen, einen „miles Christi“, der mehr war als nur Mantelteiler; er, der im Jahre 361 das erste abendländische Kloster schuf und sich im Kampf gegen die heidnischen Götterstatuen, Kultplätze, heiligen Bäume und Tempel auch 'martialisch' und religiös 'intolerant' zeigte, der im Kampf um die Freiheit der Kirche vom Staat, in Trier vor dem Kaiser, sich auf die Seite des in der Lebensform ihm durchaus ähnlichen Bischofs Priszillian von Ávila stellte und angesichts des kaiserlichen Todesurteils über diesen Mann in Trier im Jahre 385 unterlag. Martinus war kein genialer Rhetor, Schriftsteller, kein einflussreicher Kirchenbeamter. Er war Bischof wider Willen (die Gänse verrieten ihn in seinem Versteck), kein kirchlicher Karrierebeamter. Es ist bezeichnend, dass er befürchtete, in seinem Bischofsstand seine Fähigkeit zu heilen und seine Wunderkraft zu verlieren. Darum blieb er auch als Bischof Mönch und Eremit.
In seinem langem Leben wurde ein Moment besonderer Dringlichkeit zur Schlüsselstelle seines Lebens - diese Lichtsekunde in winterlicher Zeit in der Garnisonsstadt Amiens wohl im Jahre 335.
Martinus ist ein Heiliger, der mich bewegt, im Herbst Lebensbilanz zu ziehen. Was habe ich verpasst und übersehen? Was kann ich noch nachholen, gut machen? Die Mantelteilung war buchstäblich ein Schnitt, ein 'Cut', ein einzigartiger und unwiederbringlicher Einschnitt im Leben. Ja, das Leben ist wie ein gewobenes Tuch, wie mit einem Schwert wird es geteilt. Martins Leben wurde durchkreuzt, so wie der Soldatenmantel von einem scharfen Stahl-Schwert zerschnitten wurde.
Vielleicht wird es in unser aller Leben einmal so sein, dass uns ein bestimmter Augenblick wie ein Standbild im Jüngsten Gericht gezeigt wird: eine Weichenstellung, wo das Profil meines Lebens hervortrat und ans Licht kam, wer ich war oder hätte sein können, wo ich gerührt oder ungerührt vorüberging, versagt habe oder das einzig Richtige tat. Ein Augenblick, als ich über meinen Schatten sprang und etwas von mir herausrückte - um eines anderen willen... Es werden womöglich Momente sein, wo ich vielleicht gar nichts Besonderes gemacht haben, nur das, was sich eigentlich gehört. Das waren Lichtsekunden, wo ich 'nur' stehengeblieben bin, nur genau und lange genug hingeschaut habe und mich erschüttern ließ, wo ich merkte: Nur ich bin jetzt gefragt, unersetzbar, unaufschiebbar; nur ich kann spontan helfen. Es verschlägt mir die Sprache, ich kann den anderen nicht mit billigem Rat abspeisen oder mir keine gute Ausrede zurechtlegen, die da lauten könnte: „Da kann ja jeder kommen; man kann sich schließlich nicht um jeden und alles kümmern; ich habe meine eigenen Probleme. Ich bin unter Zeitdruck...“
Wie fühle ich mich, wenn ich mich zu einer solchen guten Tat wie einer Mantelteilung hinreißen lasse? Bin ich über mich selbst überrascht und gerührt, weil ich mir das gar nicht zugetraut hätte, weil ich mich selbst darin nicht wiedererkenne. Bin ich glücklich, froh, eine wenig seelisch und moralisch gestärkt durch diese erbauliche Leistung, ohne großes Nachdenken etwas losgelassen zu haben, eine gute Tat verrichtet zu haben?
Hätte ich doch den Mut, den Blick, das Herz, die Hand dieses Martin! Werde ich je die geheimnisvolle Paradoxie des Glaubens verstehen; dieses: „Wer teilt, gewinnt“; dieses: „Wer nimmt, verliert“; dieses „Man behält nur, was man hergibt“. …?
Wann werde ich dieses Geheimnis des Glaubens, diese Mathematik des Himmels verstehen: „Wer andere groß macht, wird dabei nicht klein, der verdoppelt den Mantel...“?
In meiner Kindheit in Mönchengladbach kannten wir keine Sternsingeraktion; stattdessen gingen wir am Martinsabend, nach dem Zug zum Martinsfeuer, von Haus zu Haus. Da hieß es noch nicht im Halloween-Sound: „Süßes oder Saures“, doch ebenso dringlich, fast drohend:
Hier wohnt ein reicher Mann
der uns vieles geben kann.
Vieles kann er geben, lange soll er leben,
selig soll er sterben,
das Himmelreich erwerben.
Lass uns nicht so lange stehn,
denn wir müssen weitergehn, weitergehn.
„Wir sind Bettler, das ist wahr!“ Das sollen die letzten Worte Martin Luthers gewesen sein, der am Martinstag, dem 11.11.1483 auf den Namen des Tagesheiligen in Eisleben getauft wurde.
Wir sind Bettler, wir betteln um mehr Licht in dieser zwiespältigen und von Krieg und Kälte gequälten Welt, um Menschen, die stehenbleiben und helfen und um die Geistesgegenwart, selber stehenzubleiben und zu helfen.
Einen lichtvollen November wünscht
Kurt Josef Wecker