Ostern 2022 - Das große Wunder, buchstäblich verborgen im Buchstaben E

Gedanken zu einer mittelalterlichen Miniatur und zum Auferstehungsgeheimnis

Datum:
Mi. 6. Apr. 2022
Von:
Kurt Josef Wecker, Pfarrer Nideggen/ Heimbach
Ob’s denn wahr ist, das große Versprechen von Ostern? Oder nehmen wir den Mund zu voll und verbreiten ein gänzlich unwahrscheinliches Gerücht? Die Skepsis gegenüber dem Auferstehungsglauben nagt an der Christenheit, an dir und mir. Doch nichts braucht diese Welt mehr als die Aussicht auf diesen rettenden Ausweg, auf Auferstehung. Was würde uns fehlen, wenn es dieses Fest nicht gäbe – und die Perspektiven, die es schenkt? Unsere Zukunft hängt an der Wahrheit dieses Festes, am winzigen Nadelöhr dieses Tages, den der Herr gemacht hat. Mein Leben steht auf dem Spiel. Alles oder nichts! Ist da einer, der mich auf ewig ansieht – oder nicht? Wir klammern uns an das Rettungsseil, das Gott uns zuwerfen wird, an diesen „Ersten der Entschlafenen“ (1 Kor 15,20).
Oft wird in diesen Wochen eine ‚Zeitenwende‘ beschworen, das Heraufziehen einer Epoche, in der kein Stein der alten Ordnung auf dem anderen bleibt - weil sich in einem Krieg in Europa zu wiederholen scheint, was überwunden schien. Sind die Mächtigen unbelehrbar angesichts der Gräuel des vorigen Jahrhunderts? Manche sagen im Blick auf die bedrückende Weltlage: Komm mir nicht mit Ostern! Komm mir nicht mit all den vollmundigen Worten von Lebensfülle, Überfluss, Leichtigkeit … Uns erfüllen in diesem Jahr wie schon in den beiden Corona-Ostern zuvor eher dunkle Ostergefühle. Das Leben geriet aus der Balance, die Auferstehungssehnsucht ist vertrocknet. Nicht allein die Kirche stagniert am Nullpunkt. Die Welt in ihrer Ausweglosigkeit tut weh, schreckstarre Blicke richten sich auf das zuvor Unausdenkbare des blutigen Angriffskriegs in Europa. Wir müssen ohnmächtig der nackten Gewalt in der Ukraine, in Syrien, in Mali, im Jemen aus der Ferne zusehen. Unerträglich brutale Bilder verstören, und wir kommen schwer ins Grübeln, was uns der Osterglaube in diesem Dunkel noch sagen kann. Muss ich mir eingestehen, wie ‚auferstehungsvergessen‘ ich lebe? Wir treten auf die ‚Lichtung im Kirchenjahr‘. Ostern dürfen wir große Worte machen und beinahe trotzig triumphale Lieder singen. Suchend und fragend bewegen wir uns am heißen Kern des Glaubens und geben betend die Verlustanzeige auf: Du fehlst uns, Herr! Was würde aus uns und dieser zum Frieden unfähigen Welt, wenn Du nicht lebst und Leben schenkst und wenn niemand mehr an dich, den Allerlebendigsten, glauben würde?
Vor Augen stehen uns Gegenbilder apokalyptischer Verwüstung. Sie sind nicht zum Mit-Ansehen, und doch müssen wir sie ertragen. Mehr denn je braucht die verwüstete Welt Gegenbilder der Hoffnung. Wir brauchen den Herrn, der bleibt, wenn alle irdischen Herren, Despoten und Oligarchen gehen und vergehen. Und die blass gewordene Kirche braucht uralte Hoffnungsbilder, die heilsam von uns und dem ganzen Kirchenkram ablenken. Das diesjährige Osterbild erzählt buchstäblich vom winzigen Jesus. Er ist als Schmuckelement verborgen in einer Initiale, in der oberen Hälfte des Buchstabens E. Das Fest, das unser Fassungsvermögen sprengt, verdichtet sich in einer Miniatur etwa aus dem Jahre 1140, geschaffen von Salzburger Meistern/ Illuminatoren für die Benediktinerinnenabtei St Erentrud auf dem Nonnberg zu Salzburg, bestimmt für ein Perikopenbuch, für den festlichen ersten Buchstaben E aus dem Bibelwort „Expurate vetus fermentum“ - „Fegt aus den alten Sauerteig“ (1 Kor 5,7f), das Pauluswort, das im 10. -12. Jahrhundert in der Ostermesse verlesen wurde. Christus verbirgt sich und ist buchstabenklein im Bilde.
Der im Perikopenbuch bezeugte Christus tritt uns Betrachterinnen und Betrachtern frontal gegenüber. Wir dürfen Ihm begegnen, uns wie die frommen Salzburger Ordensfrauen des Hochmittelalters in Ihn versenken, zu Ihm, dem österlichen Sieger, aufschauen. Das Antlitz Jesu erinnert an das traditionelle Christusporträt dieser Zeit: das Mandylion von Edessa. Spüren wir den Osterwind, der in die rote Kreuzfahne fährt? Jesu Rechte hält nicht das Kreuz, sondern den Kreuzstab mit dem Kreuz als Siegeszeichen. Das Grab ist (noch nicht) leer, aber der Held ist erwacht! ER noch drinnen im Sarkophag. Er allein im offenen Grabkasten, er im Ostergarten, woran die floralen Motive, die grünen Blätter im Gold erinnern. Solus Christus! Allein ER! Er ohne Begleitfiguren: Ohne Engel und Jünglinge in weißen Gewändern, ohne Salbfrauen, ohne Maria Magdalena, ohne Apostel, ohne Grabwächter. Für Ostern braucht es keine menschlichen Regisseure, Gestalter, Täter. Es ist der Tag, den Gott gemacht hat! Ein Fest als reine Gabe Gottes. Er steht so ganz ruhig da, als Halbfigur, im Zentrum, ohne große Aktionen und heftige Bewegungen. Er - ohne Spuren der Gewalt, so unversehrt, dass man ihm die Brutalität der Kreuzigung nicht ansieht. Hat Er so schnell die Kreuzigung hinter sich gelassen? Er - vornehm, aber nicht spektakulär gekleidet, so dass man den nackten Jesus am Kreuz vergessen könnte. Kann das der Hingerichtete sein, der am Karfreitag seinen brutalen Aggressoren ausgesetzt war? Heilen Wunden so rasch? Hat Er sich ‚so gut gehalten‘? Allein der Kreuznimbus erinnert an den Schmerzensmann.
Wenn in der Salzburger Osterliturgie die Worte aus dem Paulusbrief verlesen wurden, blieb das Auge der Vortragenden für einen Augenblick auf dieser Miniatur hängen. Sie sahen - Ihn allein in diesem Kasten, der an den irdischen Nullpunkt, das Grab erinnert. Die Schönheit und Souveränität des Auferweckten anzuschauen, das war dem romanischen Hochmittelalter wichtig. Der Anblick des Auferweckten löst kein Erschrecken aus, eher einen gewissen scheuen Respekt vor dieser fremden, fernnahen Gestalt, die uns Betrachtende nicht anblickt. Jesus zeigt uns nicht seinen tödlich verletzten Körper und die Verwüstungen des Karfreitags. Er zeigt sich uns auch nicht im Modus des Verschwindens. Er erscheint im Goldkranz, im Jenseits aller Todeswelt. Ihn muss keine irdische Hand mehr salben. Ihn kann niemand aus dem Grab heraushelfen. Und die Frage, wer ihm wohl den Stein weg wälzt, stellt sich hier nicht. Nein, wir Menschen sind keine „Steinewegwälzer“, zumindest nicht von Gräbern. Wir können den Toten nicht aus den Gräbern helfen. Kein starker Mann, keine mutige Frau, keine eifrige fromme Kirche kann so etwas. Nein, wir sind nicht die Macher von Ostern. Wir feiern den dritten Tag, den Gott allein gemacht hat. Wir betrachten Christi Erscheinung, Ihn, der sich plötzlich und unerwartet, ungefragt und unverhofft den Frauen, den Jüngern und uns Betrachtern dieses Bildes zu sehen gibt.
Einfach so ist Er da und bietet sich wehrlos unseren Blicken an. Inmitten dieses gegenwärtigen Kirchenbetriebs ist Er ein Fremdling. Er gerät nicht in hektische Betriebsamkeit, wird nicht zum Moralapostel oder zum rastlosen Wundertäter. Von dieser Darstellung geht Stille aus. Reine Gegenwart des Auferstandenen. Es ist eher ein kleines Andachtsbild voller Lyrik, das die Dramatik der Großtat Gottes am Ostermorgen kaum ahnen lässt. Wollen wir ihn so leibhaft sehen? Ihn, der nicht zu fassen ist? Ihn, den nicht meine fromme Erinnerung, sondern allein Gott von den Toten auferweckt hat (1 Kor 6,14; Röm 6,4)? Ihn, der sagt: „Ich war tot, und da! Ich bin lebend im All der Weltzeiten“ (Offb 1,18)? Will ich mich mit den Blicken des Glaubens an Ihn herantasten? Möchte ich von Ihm gesehen werden? Jesus hält etwas mit seiner Linken hoch, lässt uns einen Gegenstand aus der Dingwelt der Passion wahrnehmen. Diese Geste, mit der er ein Textil präsentiert, ist merkwürdig. Er berührt das Schweißtuch oder die Leinentücher, den Zipfel des Leichentuchs (Joh 20,6f; Lk 24,12). Dieses ‚alte‘ Textil wird er zurücklassen im Grab, so wie Er zu Ostern den ‚alte Sauerteig‘ ausfegen will aus meinem Innenleben. Dieser ‚neue Adam‘ kleidet uns neu ein, umhüllt uns mit dem Gewand des Auferstehungslebens. Das Grab, dieser „Un-Ort“ des Todes, ist erfüllt mit Leben, mit dem Lebendigen. Er zeigt sich uns einfach so und bittet leise um unsere Aufmerksamkeit.
Die Salzburger Künstler geben uns kühn etwas zu sehen, was uns die Evangelisten vorenthalten. Den Augenblick ‚nach‘ der Auferstehung, also das Unsagbare, diese unvorstellbare ‚Lichtsekunde‘. Eigentlich bekommen wir ja zu hören: Was sucht ihr Ihn hier im Grab? Macht euch davon! Er ist nicht hier! Die Kunst jedoch schenkt uns eine Vision. Einen Augenblick lang dürfen wir ihm gegenüberstehen, darf ich mich im Blick auf ihn geradezu selbst vergessen. Worüber man nicht reden kann, darüber soll man malen. Niemand von uns kann voraussehen, wann und wie es zu einer solchen Begegnung mit Ihm kommt. Keine noch so große Frömmigkeit kann sie herbeiführen, keine kirchliche Anstrengung kann sie herbeizwingen; doch sie steht uns allen bevor!
Unsere Kirche in der Krise redet ja über alles Mögliche. Sie moralisiert, appelliert zu mehr Anstrengung und Aktivitäten, ist immens diesseitsorientiert und schmiedet fleißig Diesseitspläne, entwirft Strukturprogramme, will ihre ‚Handlungsfähigkeit‘ steigern. Sie plant atemlos, angestrengt, schweißtriefend und mit dem Mut der Verzweiflung Selbsterhaltungs- und Überlebensstrategien und müsste sich ehrlich eingestehen, dass sie immer mehr an ‚Relevanz‘ verliert. Die Kirche darf sich angesichts der Wucht des Ostermorgens eingestehen, immer hinter ihren Möglichkeiten zurückzubleiben. Sie gerät nicht erst am Grab Jesu an die Grenze des Beantwortbaren und ringt vor den wirklich existentiellen Herausforderungen nach Worten. Wenn sie Ihn nicht bezeugt, dann ließe sie viele Zeitgenossen trostlos und ratlos zurück. Gott sei Dank gehört die Botschaft von Ostern nicht zu den Themen, die die Kirche erfinden muss oder die sie dem Mainstream nachplappern kann. An diesem heutigen Tag kann die Kirche nicht das nachbeten, was die Welt ohnehin schon sagt oder ebenso gut oder sogar besser weiß. Die österliche Neuigkeit überschreitet das Menschenmögliche, auch das, was der Kirche bei aller ‚frommen Geschäftigkeit‘ möglich ist. Zu Ostern ist die Kirche Gott sei Dank nicht Herrin des Verfahrens. Sie ist passiv und ratlos; und diese Ratlosigkeit und Ehr-Furcht vor dem Unfassbaren steht ihr gut zu Gesicht. Wir können Ostern nicht auf die Tagesordnung unserer Agenda setzen; diese festliche Gabe wird uns quasi wie ein Ei ins Osternest gelegt. Ostern erinnert mich daran, dass wir von Gottes Macht sprechen dürfen; und diese Macht ist gut und todüberwindend. Eine aktivistisch rotierende und sich permanent reformierende Kirche? Schön und gut! Unverzichtbar ist eine auf Ihn schauende, Ihn suchende, Ihn hörende, Ihn aus dem Stimmengewirr der Zeit heraus-hörende Kirche. Eine Kirche, die sich sein Gegenüber gefallen lässt und sich von Ihm anschauen lässt. Eine Kirche, die es nur gibt, weil Er ihr erscheint und auf Augen hofft, die ihn suchen. Die österliche Erscheinung Jesu ist anstößig für eine Institution, die viel Vertrauen verloren hat und der es immer noch um Selbstdarstellung geht. Es wäre traurig, wenn sie Christus in das „geistliche Wort“ vor Sitzungsbeginn verbannt, Ihn zwischen ihren Tagesordnungspunkten beinahe zum Verschwinden bringt und Seinen Aktionsradius eingeengt wie in einen winzigen Buchstaben. Zukunft und rettende Auswege für uns gibt es nur, weil es den Auferstandenen gibt und die ansteckende Energie, die von Ihm ausgeht, wenn Er verborgen zwischen den Zeilen meines Lebensbuches anwesend ist. Gott sei Dank geht er nicht nur in kitschigen Geschichten vom „herzensguten Menschen aus Nazareth“ auf, ist er unendlich mehr als ein irgendwie exemplarischer Mensch von gestern. Seit Ostern hat die Kirche der Welt wahrhaft Neues zu sagen. Sie bezeugt die Realpräsenz des Auferstandenen hier und heute! Sie traut Ihm zu, zum Handelnden, zum Salvator des kranken Kirchenleibes zu werden. Ohne seine österliche Anwesenheit wäre alles nichts. Starren wir also nicht auf unsere Defizite und Mangelerscheinungen. Wir dürfen auf Ihn blicken, Ihn einfach Herrn und Lebensspender „sein lassen“.
Die große und unvergleichliche Auferstehung hat kleine Schwestern und Brüder. Auferstehung kann in unscheinbaren Spuren - wie auf dieser Miniatur – „buchstabenklein“ ahnbar werden in unserem Leben. Wenn sie uns widerfahren, dann sind sie die kleinen Funken des großen Osterfeuers.
Ihnen und Euch in dieser schweren Weltzeit und der unübersichtlichen Krisenzeit der Kirche wünsche ich seinen leisen Friedensgruß: „Meinen Frieden gebe ich euch!“ Ostern tue uns gut!
Ihr/Euer
Kurt Josef Wecker, Pfarrer

Das dazugehörende Bild kann aus rechtlichen Gründen hier nicht veröffentlicht werden, es liegt in den Kirchen unserer Gemeinde aus