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advent
Eine Ikone, angelehnt an weihnachtliche Mysterienbilder des Ostens, lädt uns in diesem Jahr ein zu einer staunenden Annäherung an das Geheimnis der Menschwerdung Gottes. Ihr Ursprung ist Latium, nicht Byzanz. Doch dieser Stil, die „Maniera greca“, hat auch Italien und die Darstellung der „Natività“, der Geburtsszene, im 13. und 14. Jahrhundert vor Giotto beeinflusst. Wohl ein zeitgenössischer Künstler Mittelitaliens ließ sich vom byzantinischen Stil anregen. Ganz offensichtlich beeinflusst die östliche Ikonenfrömmigkeit diese Geburtsdarstellung. Charakteristisch dafür ist die Geburt im Freien in bergiger Kulisse, in zerklüfteter Landschaft vor einer tiefschwarzen Höhle, das streng gewickelte, nein, sogar bis auf den Kopf eingeschnürte Christuskind, der den Fels durchdringende Sternenstrahl, auch die Altar- und Architekturkrippe. Hier wird uns keine idyllische Weihnachtsszenerie geboten, eher ein strenges feierliches Bild, das uns auf das Wesentliche konzentriert, auf die Heilige Familie, auf die beiden Tiere und den Stern, der das Übernatürliche dieses Geschehens verdeutlicht und unsere Aufmerksamkeit lenkt auf den Moment der „Zeitenwende“, die „Sternstunde“ der Ankunft des Menschgewordenen. Uns tritt der entgegen, der den Rahmen jedes Bildes sprengt: die Einkehr des Unfassbaren in meine dunkle und karge Welt.
Eine Ikone ist wie eine heilige Pforte ins Geheimnis, die uns freundlich einlädt näherzutreten; wie ein Fenster, das uns ewig Gültiges zu sehen gibt. Am schönsten wird sie durch die ostkirchlichen Hymnen gedeutet. Ikonen wollen nicht illustrieren, wie es in der Heiligen Nacht wohl gewesen ist. Ikonenmaler wollen nicht ihre kreative Spontaneität oder die Genialität einer Künstlerpersönlichkeit unter Beweis stellen, sie schaffen auch kein Historienbild, wecken keine großen Emotionen. Sie stellen für den Gottesdienst ein heiliges Geschehen dar. Ihr Malen ist Gottesdienst, ihr Zeichenrepertoire ist vorgegeben. Die Kunst dieser Maler besteht darin, das unnahbar Hoheitsvolle und zugleich zutiefst Menschliche der Geburt des Retters ins Bild zu bringen. Eine Ikone will mich nicht unterhalten und zerstreuen, sondern mich sammeln und still werden lassen. Wir sind eingeladen, uns zu vertiefen in das Christusgeheimnis, welches das Credo von Nizäa vor 1700 Jahren feierlich proklamiert hat.
Was ins Auge fällt, ist nicht die dunkle Weih-Nacht, sondern die schwarze Höhle, vor der sich das Weihnachtsmysterium wie vor einer aufklaffenden Leerstelle abspielt. Wir müssen keine „Heilige Pforte“ durchschreiten, um bei Ihm zu sein. Die Heilige Familie befindet sich davor, draußen, wie auf einem bühnenartigen Vordergrund. Der Menschgewordene ist von Anfang an ohne Dach über dem Kopf (vgl. Mt 8,20). Bethlehem ist nur ein Transitort. Ja, die Welt, in der „das Licht vom Lichte“ das Licht der Welt erblickt, ist wie ein düsterer Abgrund. Hier geschieht „Höhlengeburt“. Bethlehems bergige Landschaft kennt Naturhöhlen. Kaiser Konstantin ließ die Geburtsbasilika über einer solchen Grotte errichten. Die Ikonenmaler lassen sich inspirieren von apokryphen Evangelien (dem Pseudo-Matthäus, dem Protoevangelium des Jakobus, arabischen Kindheitsgeschichten), die vom seltsamen Geburtsort Jesu, einer Naturhöhle, einer „Spelunca“, einer finsteren Grotte erzählen. Gott steigt hinab ins Abgründige. Mutter Erde öffnet sich dem Schöpfer. „Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst“ (Joh 1,5). Aus dem Dunkel einer Felsenhöhle geht das Heil hervor (vgl. auch Jes 33,16). Östliche Gläubige denken an die „Hadeshöhle“, in der Adam und Eva - deren Namenstag wir am 24. Dezember begehen - und die alttestamentlichen Gerechten von Christus kraft der Hadesfahrt/Anastasis Jesu am Karsamstag aus ihrer ‚Dunkelhaft‘ erlöst werden. Die alte Welt, der alte Adam, harren auf Erlösung, auf den neuen Adam. Auf einmal wird eine Brücke geschlagen von der Menschwerdung Gottes in der Geburtshöhle zur „Höllenfahrt“ des Salvators, wie wir sie auch auf dem Heimbacher „Antwerpener Schnitzaltar“ finden. Wir denken natürlich an die „Grabeshöhle“ Jesu, in der er nach seinem Tod beigesetzt wurde. Und zugleich ist der Berg mit seiner Höhle, die Felsenburg als Zuflucht (Jes 33,16; Hab 3,3), der Schoß der Erde - ein Sinnbild für Marias Schoß, aus dem der Retter hervorgeht: „Maria, o heiliger Berg, aus dem Er hervorging“. „Was sollen wir dir darbringen, Christus, / dafür, dass du auf der Erde erschienen bist? / Der Himmel den Stern, / die Erde die Höhle / wir aber die jungfräuliche Mutter.“ So heißt es in einem Hymnus des Patriarchen Germanos.
Aus dem dunklen Höhleneingang heraus blicken die „heiligen Tiere der Weihnacht“, Ochs und Esel. Sie sind (anders als die Hirten) aus einem Weihnachtsbild nicht wegzudenken: Das reine Tier und das unreine Tier. Gottes Wort kommt zu den Wortlosen. Wir sehen ihre Köpfe, ganz nahe am Kind. Sie müssen einfach dabei sein. Auch sie beten. „Ein Ochse blies die Krippe warm, der nah der Mutter stand“, heißt es in der „Hirtenstrophe“ von Peter Huchel. Mit diesen Geschöpfen sind auch wir, die Erlösungsbedürftigen, an der Krippe präsent; denn der Ochse, an das jüdische Gesetz angespannt, steht für das auserwählte Judentum; und der Esel wird zum Sinnbild der Heidenvölker, das Lasttier, mit der Sünde des Götzendienstes belastet. Beide befreit das Kind von ihren Lasten. So deutet der hl. Gregor von Nazianz Jes 1,3; ähnlich sehen es Origenes und die Kirchenväter Ambrosius und Augustinus. „Zwischen zwei Tieren wirst du erkannt“ (Hab 3,2, Septuaginta); der neue Adam vor zwei eigentlich nicht zusammenpassenden Tieren (Dtn 22,10).
Die Präsentation des bis zum Hals wie eine Mumie eingeschnürten Christuskindes in der Bildmitte nimmt die Fesselung und den Tod des Erlösers vorweg. Der Ewige fällt in unsere Endlichkeit. Wir sehen nur das Gesicht des Kindes: Gottes Wort nimmt Gesicht an. Sind dem Retter der Welt die Hände gebunden? Historiker sagen uns, dass das Wickeln und Bandagieren eines Säuglings im Mittelalter ebenso verbreitet war wie zur Zeit Jesu, auch um das Deformieren der Glieder zu vermeiden.
„Kaum, dass das Kind dem Mutterleib entschlüpft ist, steckt man es in ein neues Gefängnis. Der König der lebenden Wesen beginnt sein Leben unter Marter. An Händen und Füßen gebunden, ist er seinen Tränen und Seufzern ausgesetzt“, schreibt Plinius. Und weiter: „Wickeln galt als Schutz; ohne Wickel würde sich das Kind die Augen auskratzen, die Ohren abreißen und die zarten Beinchen brechen“. Wie der Kreuznimbus und die Altarkrippe schlägt der wie in Leichentücher gewickelte Neugeborene die Brücke in den Karfreitag. Eine Ikone ist gemalte Theologie. Ein Festgeheimnis weist hin auf das andere.
Josef ist keine nachdenkliche, grübelnde, zweifelnde Nebenfigur oder gar ein verschlafener Unbeteiligter; er kauert, kniet im Bildvordergrund vor dem Kind in der seltsamen Altarkrippe und betet es mit eindrucksvollen Gesten an. Fast priesterlich hält er die Hände über den Weinkrug und das Brot – ein ungewöhnliches eucharistisches Detail – und zeigt auf das lebendige Himmelsbrot, das in Bethlehem (=Brothausen) quasi von oben herabgestiegen ist. (Joh 6,35-51). Das Abendmahl wird in den Ostkirchen unter beiderlei Gestalten gespendet. „Sei gegrüßt, Bethlehem, Haus des Brotes, wo jenes Brot geboren wurde, das vom Himmel herabgestiegen ist“, singt die Pilgerin Paula von Rom.
Maria, die Theotokos, die Gottesgebärerin, befindet sich vor dem Berg. Die Gottgebärende ist dem Sohn am nächsten: Sie liegt nicht – wie auf vielen östlichen Ikonen - und betet das Kind auch nicht an. Sie sucht Kontakt zu ihm und umarmt das Gottesbaby, ein „Gott zum Anfassen“. Sie hält ihn, sie ist die „Wegweisende“, die Hodegetria, denn sie zeigt auf ihr Kind, präsentiert uns diese Fleisch gewordene Gottesgabe. Seht – das ist der Mensch, so ist euer Gott! Die Strapazen der Geburt sind ihr nicht anzumerken. Die Tradition betont das schmerzlose Gebären. Gott fällt nicht senkrecht vom Himmel herab. Wenn er zur Welt kommt, dann durch Maria hindurch. Er ’braucht‘ sie, um bei uns ‚anzukommen’! Die Gottesmutter trägt einen roten, goldgesäumten Umhang / Schleier, das Maphorion, das auch ihr Haar bedeckt, und ein blaues Untergewand. Auf dem roten Umhang sieht man – typisch für die Ikonenkunst - drei Sterne, sogenannte „Jungfrauensterne“, die für Marias „Immer-Jungfräulichkeit“ stehen, für die „Immerwährende Jungfräulichkeit“ der ganz von Gott Durchdrungenen - vor, während und nach der Geburt des Messias.
Die Engel und der Stern gehören in den oberen Bildteil, der wie die Nimben, die Heiligenscheine, geprägt ist vom Goldgrund des Göttlichen. Die beiden Boten sitzen auf dem Fels, feierlich ernst, in gefasster Haltung, mit demütig verhüllten Händen, in sehr menschlicher Gestalt. „Ich verkündige euch große Freude“. Andächtig betrachten sie - wie die beiden Tiere - das unfassbare Geschehen des herunter gekommenen Gottes. „Und sie gebar hier einen Sohn, den die Engel von Geburt an umgaben“, so heißt es im Pseudo-Matthäusevangelium. Ohne die deutenden Engel ginge uns nicht auf, wer dieses Kind ist. Sie laden uns ein, ihren anbetenden Blicken auf den Neugeborenen zu folgen.
Das Wickelkind schläft nicht, hellwach ist es Josef und uns zugewandt. Der Futtertrog ist keine Strohkrippe, sondern eine altarähnliche Krippe, wie eine Architekturkrippe mit Arkaden, ein Steinsarkophag, ein Opferaltar. Davor abgestellt die heiligen Gaben Brot und Wein, wie zum Abendmahl bestimmt. Das Kind im Futtertrog ist nahrhaft wie gutes Brot. Auch der steinerne Futtertrog und der Kreuznimbus um den Kopf Jesu weisen hin auf das Kreuzesopfer des Erlösers. Wiege und Grab, Geburtsort und Opferstätte, Hoheit und Leiden sind bereits zur Weihnacht tief verbunden. Ja, geboren ist das Kind um unseres Heiles willen; und es ist todgeweiht für uns.
Dieses Bild ist kein „Nachtstück“; es erstrahlt im „Offenbarungslicht“. Der Himmel ist nicht düster und leer. Über allem strahlt „der Stern der Gotteshuld“ (Gl 220,4; Jochen Klepper), der seinen Strahl (Jes 9, 1-5) auf das Kind sendet und Ihn uns zeigt; es ist der Stern (Mt 2,2), von dem Bileam sagt: „Der Stern wird in Jakob aufgehen und Israels Feinde vernichten“ (vgl. Num 24,17). Der aufgehende Stern ist das verheißungsvolle Bild für den Messias aus dem Hause Davids (vgl. Jes 9,5f). „Von der Höhle verborgen/ wurdest du geboren./ Aber der Himmel hat dich allen kundgetan/ wie ein Mund/ und hat den Stern darüber gestellt, o Retter“, so singt die ostkirchliche Liturgie. Ja, das Kind kommt von ‚oben‘. Der fast senkrechte Strahl. Er ist die strahlende Verbindung vom Himmel durch die dunkle Felshöhle zum Kopf des Neugeborenen, der das Licht der Welt ist (Joh 1,12).
Die Ikone verzichtet auf Krippenbesucher, auf Hirten und Magier. Wir stehen in der ersten Reihe. Uns wird Raum gegeben, dem Geheimnis nahe zu sein. Erfüllt sich unser tiefster Weihnachtswunsch in diesem Kind, dem unscheinbaren „Bündel Gottes“ (Paul Conrad Kurz)? Ist das alles? Ja, das ist alles! Nur das Wunder seiner leisen Ankunft in unserem armen Fleisch wird uns retten.
Das Geheimnis braucht keine Heiligen Pforten und heilige Orte, es liegt öffentlich da – vor aller Augen, „der Sonne und dem Regen preisgegeben“ (GL 460,2). Wir suchen nach erlösenden Antworten, nach einem Retter, der wirklich für mich da ist – und stoßen auf diesen seltsamen Schatz. Tretet näher! Seht - nur ein Kind! „Seht, der kann sich selbst nicht regen, durch den alles ist und war“ (GL 245,3). Eingewickelt in Binden wie Lazarus im Grab (Joh 11,44) ist Christus der, der uns aus der Zwangsjacke des Todes erlöst. Er, auf den hin alles geschaffen ist, kann noch nichts tun. Allein durch seine ohnmächtige Präsenz sagt er: „Ich bin der ich bin da.“ (Ex 3,14). Ich bin auf ewig für dich da.
„Er ist einfach da – das ist alles, was er tut und kann. Aber indem er da ist, ohnmächtig und strahlend, ist eben Gott selber da. Gott ist da für uns. Und was sagt dieses Dasein Gottes im Kind von Bethlehem? Es sagt mir, es sagt dir, es sagt jedem Menschen: Gut, dass du da bist.“
(Bischof Klaus Hemmerle).
Ich wünsche Ihnen und Euch, dass uns dieses Wunder der Weihnacht erfasst und einleuchtet! Kurt Josef Wecker, Pfr.